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Mit der Schrotflinte in den Wald geschossen: Plattenregal, Buchstabe
S, reingegriffen, The Seeds, prototypische US-Punkgruppe avant le
mot, geben sich auf ihren Plattencovern als Cowboys (aber mit Armbanduhr
und Reisverschluss am Stiefel), als Indianer (Stirnband, zwei weiße
Hühnerfedern, aber weiße Jeans), als Stutzer (Frack,
Breeches, Rüschenhemd), als Hobo (am Rand von Gleisanlagen
auf rostigem Alteisen sitzend, aber in feines Tuch gekleidet), als
Pirat (Tuch um die Stirn, aufgerollte Hemdsärmel, breiter Ledergürtel
mit großer Schnalle, aber Zigarettenpackung in der Brusttasche),
als Mädchen (leicht nach vorne geknickte X-Beine, nach außen
gefönte, halblange Haare, feminine Brillenfassung, aber Backenbart).
Dazu läuft als East-Coast-Pendant zu den kalifornischen Seeds
"Are You a Boy or are You a Girl?" von den Barbarians,
alle vier mehr oder weniger als Mods gekleidet mit für 1965
wirklich langen Haaren, dafür barfuss in Jesuslatschen; bei
Schlagzeuger Victor Moulton ragt ein Haken aus Stahl aus dem Ärmel
seines Cordsakkos. In beiden Fällen, Seeds und Barbarians,
schlüpfen Popmusiker für einen speziellen Anlass wie ein
Foto-Shooting oder einen Song bewusst in eine Rolle, die sie aber
nur zu einem bestimmten Teil auszufüllen gewillt sind; die
ironische Geste wird schon in der Ausführung durch eine neuerliche
ironische Wendung oder einen Anachronismus relativiert, das Spiel
mit Sein und Schein, mit Ich und dem Anderen ad infinitum weitergetrieben.
Einfältigen Betrachtern des Popgeschehens
gilt dieses Spielchen seit je als Beleg für die identitätsstiftende
Funktion der Popkultur, als ein kleiner Mehrwert an Freiheit, der
mit dem Erwerb von Tonträgern oder Trendklamotten gratis mitgeliefert
wird: Hätten Sie Ihr Pop-Würstchen gern mit Senf oder
mit Mayo? Dem engagierteren Wanderer im Lande Pop aber wird nicht
entgehen, dass es sich bei diesem Spiel mit Rollen und Stilen und
Haltungen keineswegs um identitätsstiftende Vorgänge,
sondern um Strategien zur Identitätsvermeidung handelt.
Während ethnische Musiken - selbst
volkstümliche Musik - meist die horizontale Positionierung
des Ich in einer Gesellschaft entweder beschreiben oder zementieren
helfen, während die E-Musik nur mehr Fragen stellt, die mit
der Berufung des Individuums zum Oberstaatsministerialdirigenten
beantwortete werden können, duckt sich Popmusik seit ihrer
Entstehung gewissermaßen unter den Anforderungen und Erwartungshaltungen
der Gesellschaft weg, die ja zuerst immer ablehnend und aggressiv
oder beschämt auf die Lebensäußerungen aus ihrem
Unterleib reagiert, bevor diese domestiziert und nutzbringend verwertet
werden - eben wie das kultivierte Präholocaust-Europa ("It
can't happen here!", The Mothers of Invention) noch zu Beginn
des 20. Jahrhunderts peinlich berührt den degoutanten Amerikanern
beim Tragen großkarierter Sakkos zusah ("Ein Butler in
Amerika" mit Charles Laughton), um dann folgerichtig vor lauter
Bewunderung für democracy selbst zum besseren Amerikaner zu
werden.
Eine ähnliche Überreaktion
findet seit Jahren nun unter dem Schlagwort Pop statt: Alles, was
dämlich ist und grell und schnell soll Pop sein; gratuliere,
Sie haben ein Wochendende mit Ariane Sommer, der Schwiegermutter
des Schweizer Uhrenvertreters in Berlin, gewonnen: Pop-Professor
Diederichsen müht sich ob der Unübersichtlichkeit der
Lage, die neueste aller Welten in Wittgensteinscher Manier in Pop
1 und Pop 2 zu teilen; die Guten ins Töpfchen, die Schlechten
ins Kröpfchen. Dabei ist der ganze Rummel nicht einmal satisfaktionsfähig;
das sind nur lemurische Reaktionen auf die Unerträglichkeit
des massenmedialen Ausgeliefertseins, sind rührende Versuche,
in Zeiten und Zuständen höchster Zersplitterung so etwas
wie festen Boden unter die Prada-beschuhten Füßchen zu
bekommen: Ob Verona Feldbusch nun ein Baby bekommt, Rudolf Scharping
eine Erektion oder Zladko eine Goldene Schallplatte ist in dem Moment
uninteressant geworden, wenn Harald Juhnke ins Pflegeheim muss:
Man sieht sich im Leben ja immer zweimal, wie es in Talkshows gerne
heißt, auch wenn man sich dann vielleicht nicht mehr klar
erkennen kann. Mit Pop, nummeriert oder nicht, hat das alles nichts
zu tun, weil die Protagonisten auf dem Boulevard der Albträume
eben etwas oder jemand sein wollen, weil sie nach einer Identität
gieren, wogegen man Pop fast immer daran erkenne kann, dass er die
Eindeutigkeit vermeidet, die Identität gefährdet. Dazu
passt ausgezeichnet die richtungsweisenden Beobachtungen von Andreas
Bernhard, der an dieser Stelle auf den zunehmenden Arbeitercharakter
der Retorten-Popstars verwiesen hat: Jünger statt Jugend, Ernst
statt Spaß.
Pop als Strategie der Identitätsverweigerung
hat eine lange Tradition, nein, ist symbiotisch mit jeder relevanten
Äußerung von Pop verbunden: So stammten die ersten Blues-Aufnahmen
mit Titeln wie "Nigger-Blues" von weißen Interpreten
(mit schwarz angemaltem Gesicht), die formal wesentlich authentischer
das taten, was man heute den Blues nennt, als die ersten schwarzen
Sängerinnen, deren Gesangsaufnahmen eher weiße Unterhaltungsmusik
mit Blues-Manierismen verzierten. Und die Noten zu W.C. Handys legendärem
"Memphis Blues" schmückt verkaufsfördernd das
Foto eines weißen Fiedlers. Doch nicht nur zwischen den Rassen
bedurfte es Tricks, um die neue, hybride Haltung einnehmen zu können:
ein Charlie Patton, raubeiniger Bluesgeselle der ersten Stunde und
eben erst von Dylan mit einem Lied geehrt, schlich sich - Ende der
20er Jahre war das - einen Tag nach seinen eigenen Aufnahmesessions
als Solo-Bluesmusiker mit einem Hut auf dem Kopf zurück ins
improvisierte Studio und reihte sich, des Geldes wegen, in eine
Gospeltruppe ein, fest darauf vertrauend, dass der weiße Toningenieur
nicht merke, dass sein Star von gestern schon wieder da ist und
nochmals abkassieren will: "Die Nigger sehen eh alle gleich
aus." Und fest darauf vertrauend, dass kein schwarzer Kunde
beim Plattenhören merkt, dass ein Sänger der Sünde
plötzlich Gottes Lob betrieb, ein Unding in den 20er und 30
Jahren in Amerikas Süden und sehr verpönt.
Das kurze Innehalten, dann der Verschwindetrick,
das Annehmen einer Identität für einen unbestimmten Zeitraum,
dann der rasante Wechsel, das Unberechenbare, das Nichtvorhersehbare,
eine Unschärfe von Geschlecht, Rasse, Alter, ein Leben, das
bei aller Öffentlichkeit desselben nur aus dem Augenwinkel
wahrgenommen werden kann. Oder, wie bei Sternen üblich, wenn
man knapp an ihnen vorbei blickt. Das war und ist eine der Kerneigenschaften
von Pop. Elvis, die schwarze Stimme im Körper eines junge weißen
Hitzkopfs. Leiber und Stoller, die jüdischen Autoren und Produzenten
der witzigsten schwarzen Popmusik der 50er Jahre. Die Liste ist
endlos und lässt sich ohne Mühe und lückenlos von
den genannten Anfängen bis in die Gegenwart eines Puff Daddy,
einer Mariah Carey oder eines Earl Zinger fortschreiben, der seine
ergreifend perfekte Retro-Easy-Listening-CD "Put Your Phasers
on Stun and Throw Your Health Food Skyward" genannt hat - ein
gelungener Witz, der auch beim fünften Erzähltwerden nichts
an Pointenkraft verliert und nur übertroffen wird von der kunstvoll
erlogenen Biografie, mit der die Journalisten dieses Planeten gefüttert
worden sind: Demnächst werden wir über diesen Earl Zinger
lesen, er habe in den 40er Jahren mit Sinatra, in den 60ern mit
Dylan, in den 80ern an Acid House und gestern noch bei der Entwicklung
von Techno in Detroit gearbeitet. Und jedes Wort ist wahr.
Exemplarisch auch "Love, Peace
& Poetry", eine lose Reihe von CDs, erschienen auf einem
deutschen Sammler-Label, vertrieben von Indigo: Vordergründig
dokumentieren die CDs psychedelische Hervorbringungen aus Lateinamerika,
Asien und Großbritannien, die um 1970 aufgenommen und um 1970
auch wieder vergessen worden sind. Aber lauter als die Gitarren
stellt sich die Frage, was hat weltweit und zeitgleich junge Japaner,
Türken, Schotten, Peruaner dazu veranlasst, sich der durch
ihre Missverständnisse nur noch schöner werdenden Nachfolge
amerikanischer Hippie-Musikanten zu begeben? Was, wenn nicht die
grundsätzliche Ablehnung der durch die politische und kulturelle
Umgebung aufgezwungenen Identität? Was, wenn nicht Pop? Pop
als Versprechen, dass morgen nichts so sein muss, wie es heute ist.
Pop als eingetragenes Warenzeichen der individuellen Freiheit.
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