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Es ist der Songer, nicht der Sing  
Melodie und Gesang, Strophe und Refrain kehren zurück in die Gegenwart des Pop  
 

Am Schluss waren manche schon so verzweifelt, dass sie Stücke, die nicht durchgehend von ein und demselben elektronischen Bumm durchzogen waren, einen Song nannten. "Das ist schon fast wieder ein Song", hieß es dann in Rezensionen. Oder: "Ist dies nun ein Song oder ein Stück?" Na, ein Stück Song wird’s wohl gewesen sein, was hier gerade vorbeipluckerte an Ohr und Gehirn Richtung Tresen, Cocktail-Beschallung, Bruchteil eines völlig aus der Mode gekommenen Genres, das nach bestimmten Regeln aus Refrain und Strophe, aus Anfang, Überleitung und Schluss immer neue, völlig verschiedene Varianten von sich selbst zu erzeugen in der Lage war und ist: der Song.
     Der Song galt als tot, niedergetrampelt von Techno und House und Drum’n’Bass und Hip-Hop und allem, was auf den reinen Rhythmus setzte und den niederfrequenten Bass. Texte galten als reaktionär, die Stimme als bloßes Material für Sampler, der Kopf als überschätze Aufhängevorrichtung für Piercings und das Herz sollte allein dazu dienen, die Drogen gleichmäßig im Körper zu verteilen. Nun gilt für Popmusik, was für alle Künste gilt: Die Totgesagten weigern sich dagegen, verscharrt zu werden. Ist in der Fotografie verwackelt und verschwommen das große Ding, machen manche unverdrossen weiter scharfe Schwarz-Weiß-Aufnahmen. Ist in der Malerei das kleine Format out, kritzeln und pinseln genügend Uninformierte weiterhin auf postkartengroßen Leinwänden herum. Hat der Roman ausgedient – genau. Also wurde auch in der Zeit, als der Song ausgedient hatte, weiter gesungen, feierten etwa Jeff Buckley, Turin Brakes und Elliott Smith beachtliche Erfolge bei den Jüngeren, filettierte Madonna und Moby alte Folksongs, um mit dem Resultat Frisörsalons zu beschallen und trösteten die wiedererstandenden Bob Dylan und Patti Smith die Älteren; aber selbst Rickie Lee Jones, die letzte große Dame der Singer/Songwriter-Gilde, konnte es sich nicht verkneifen, ihre Musik mit Breakbeats zu liften, während Gründermutter Joni Mitchell ins von Orchesternebeln umwallte Avalon der Diven hinüber glitt: digitales Dudeln rules okay.
     Wo aber Pop sich als am Fortgeschrittensten verstand – bei den kleinen, avantgardistisch sich gebenden Labels, hinter den Plattenspielern der schickeren Bars, an den Vinylkästen der wenigen verbliebenen Plattenläden, in den Besprechungen besonders kryptischer Musikzeitschriften - da richtete man sich in den letzten Jahren ein in elektronischer Formlosigkeit, in einer Art digitalem Plüsch aus Dilettantismus, Hilflosigkeit und Selbstüberschätzung. Computergenerierte Musik war da angekommen, wo sich drei Jahrzehnte früher Free Jazz festgefressen hatte: im Beliebigen. Die Rückbesinnung auf das Wort "Song" für ein wenig Gedaddel mit Texteinsprengseln war bloß Ausdruck für die schon lange grassierende Lust am Orwellschen Doppelsprech: Was Politik und Wirtschaft Recht ist, soll im Pop nicht schaden.
     Der Erfolg der Neo-Rockbands wie Jet, Vines, Strokes, Von Bondies – auch wenn dieser Erfolg viel bescheidener ist, als es seinen Propheten Recht sein kann – ist eine und eine dabei höchst vitale und vergnügliche Reaktion auf die Lähmung von Pop durch die Erzeugnisse zahlloser WG-Küchen-Komponisten von viertem Rang, ist die lustbetonte Wiedererfindung des sinnfreien Gitarrenlärms. Doch wenn das Pfeifen in den Ohren zwei Tage nach Besuch eines Hellfire/Kaito-Konzerts wieder nachlässt, ist das malträtierte Gehör reif für die Feststellung, dass im akustischen Schatten dieser Riff-Terroristen eine neue Generation von Musikern herangewachsen ist, die man als "Singer/Songwriter" bezeichnen kann, deren Erzeugnisse nicht nur "wie ein Song" klingen, sondern wieder ebensolche sind. Hier soll keine neue Welle gesichtet, kein neuer Trend ausgerufen werden: Es ist nur gekommen, wie es wohl in solch einem zyklischen Prozess wie der Popmusik kommen musste – eine neue, eine zur Sprachlosigkeit verdonnerte Generation lässt sich die ästhetische Zwangspositionierung durch Meinungsführer nicht bieten und orientiert sich bewusst oder unbewusst an der klassischen Form des Songs und an der Singer/Songwriter-Aristokratie der 70er Jahre. Der Schwede Nicolai Dunger etwa zitiert bereits in der Cover-Gestaltung für seine CD "Here’s My Song. You Can Have It…" die Chanteuse Nico; musikalisch bewegt er sich zurzeit eher zwischen Nick Drake und Roy Harper, also großem britischen Verschrobenheitslied. Der Brite Patrick Wolf blickt von seinem Debüt "Lycanthropy" wie ein Kaspar Hauser auf den potentiellen Käufer, bevor er mit viel Morrissey in der Stimme grause Balladen von Kinderschändung und häuslicher Gewalt anstimmt. Ihren Hippie-Eltern danken die neuen Singer/Songwriter Vornamen wie Sufian (Stevens) oder Devendra (Banhart) und wohl auch die Liebe zu Elfen, Zen-Buddhismus und sanft stimmenden Drogen. Andere Vertreter dieser frischen Singer/Songwriter-Zunft schätzen eher die orangefarbenen Siebziger: Josh Rouse oder Denison Witmer kolorieren ihre Lieder eher mit soulful bei Stevie Wonder oder Bill Withers abgeschöpften Sounds; als König des großformatigen Tapetenmusters aber entpuppt sich wiederum ein Schwede, St. Thomas mit Namen, den man wegen seiner offensichtlichen Trunksucht schon abgeschrieben hatte, der sich aber nun mit "Let’s Grow Together" geradezu triumphal zurückmeldet und das Singer/Songwriter-Dasein in "Daily Song" charmant zusammenfasst: "So I wake up (…), play some chords and find a tune to sing on top." Slowblow aus Island, die ständig Geister sehen, HAL aus Irland mit ihrer Affinität zu Harry Nilsson und Fred Neil, Roman Fischer aus Deutschland, all die jungen Schweden, Engländer, Amerikaner und dazu die Vertreter des neuen französischen Chansons: Auf breiter internationaler Basis meldet sich der Singer/Songwriter zurück. In den von diesen Mittzwanzigern oft zitierten 70er Jahren war es fast ein Zwang für Musikjournalisten und Plattenfirmen, nach dem nächsten Bob Dylan Ausschau zu halten: Nun, unter den Genannten ist er noch nicht. Doch der neue Donovan, der neue Nick Drake scheint sich bereits anzukündigen. Außerdem spielen in dieser neuen Schule des Songs offensichtlich die Vergangenheit und ihre Maßstäbe eh keine große Rolle: Man versucht sich im Heute und im Morgen zu positionieren. Die Vergangenheit ist Quelle, Inspiration und Materiallager, ein gern besuchter Ort, an dem man mal einen Joint rauchen kann, aber nicht mehr. Die gleichen Fehler neu machen: Wer wollte ihnen verbieten zu leben?

 

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