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Kein Songwriter solle sich der Hoffnung hingeben,
je populär zu sein, schreibt Edgar Allan Poe kurz vor seinem
Tod im Herbst des Jahres 1849. Unsterblich vielleicht, aber niemals
populär. Denn die Gefühle, die zur Musik gesetzte Worte
auszulösen in der Lage sind, verdammen in ihrer ungemeinen
und unmittelbaren Kraft den Schöpfer eines Liedes faktisch
zur Unsichtbarkeit: Er verschwinde zwischen den Silben und Noten
seines Werkes.
Die technische Reproduzierbarkeit von Musik und
der Autorengedanke, der die Künste in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts
prägte, hat aus der spätromantischen Marginalie eines der größten
US-amerikanischen Schriftsteller einen Treppenwitz gemacht: Ob Johnny Cash oder
Bob Dylan, ob Randy Newman oder Hank Williams, ob Brian Wilson oder Leonard Cohen:
It’s the singer, not the song. Und sein Autor, möchte man hinzufügen,
oft genug mit dem Sänger identisch. Es fehlt in dieser Aufzählung populärer
Songwriter der Name von Lou Reed, in der Bordzeitung einer großen Fluglinie
in die Kategorie “One Hit Wonders” verbannt, aber dann doch eher
der Autor eines der umfangreichsten und angesehensten Oeuvres im Bereich der
Popmusik, Gründer von Velvet Underground, stilbildender Sänger und
Gitarrist, gefürchtetes Ekel, Freund von Vaclav Havel und Lebensgefährte
von Laurie Anderson: “My life was saved by rock & roll!”
Lou Reed steht bei genauerer Betrachtung für
beides, für den nur schemenhaft wahrnehmbaren Songwriter Poe’scher
Prägung und für den im Rampenlicht stehenden Autor der Gegenwart, war
er doch zu Beginn seiner Laufbahn Text- und Komponiersklave bei einem Musikverlag,
der in völliger Anonymität die Bedürfnisse des Tages zu bedienen
hatte, und – nur kurz danach – ein Superstar in Andy Warhols Pop-Utopia,
der oder die einzige vielleicht aus jenen Factory-Tagen, dem tatsächlich
Popularität vergönnt war.
Auf Anregung des Theater-Gurus Robert Wilson und
auf dem Umweg über eine Inszenierung am Thalia-Theater in Hamburg hat Lou
Reed nun eine 36 Stücke umfassende Doppel-CD mit dem Titel “The Raven” vorgelegt,
die sich ausgerechnet mit Edgar Allan Poe befasst: oder mit dem Reed’schen
Blick auf den früh verwaisten, ewig verschuldeten, alkoholkranken, drogensüchtigen,
getriebenen und geworfenen, mit einer 13-Jährigen verheirateten, armselig
hausenden Poe, dessen Name am Beginn steht einer eigenständigen US-amerikanischen
Literatur, auch wenn seine Kurzgeschichten zu Lebzeiten gern als “germanic” abgetan
wurden. Es ist dies Lou Reeds beste Platte seit vielen Jahren, und dies aus sehr
seltsamen und widersprüchlich scheinenden Gründen.
Grob skizziert besteht “The Raven” aus
Songs, Instrumentalstücken und Sprecheinlagen. Zwei der Songs sind in anderer
Fassung bereits bekannt, “The Bed” und “Perfect Day”;
die Instrumentalstücke reichen von konventionellem Rock bis zu einer digital
malträtierten Gitarrenlärmkanonade mit dem Titel “Fire Music”,
die angeblich spontan nach dem 11. September 2001 entstand und wie eine Aktualisierung
von Lou Reeds monumentalem Krach-Opus “Metal Machine Music” wirkt.
Die Texte sind mal szenisch eingerichtet und unter anderem von Willem Dafoe,
Steve Buscemi, der einmal auch als Crooner glänzen darf, und einer glänzenden
Elizabeth Ashley vorgetragen, mal sind sie frei arrangierte Soundfragmente, die
an zeitgenössisches Hörspiel erinnern. Das Textmaterial besteht, von
den klar Lou Reed zuzuschreibenden Texten der meisten Songs abgesehen, aus Poe-Zitaten,
die aber ebenfalls frei assoziierend kombiniert werden, wie Reed sich auch die
Freiheit nimmt, Wörter, ganze Zeilen und Abschnitte umzudichten, nachzuschöpfen.
Text wie Musik sind also heterogen organisierte
Poe/Reed-Hybride, uneindeutig, vielschichtig, ein Eindruck, der noch verstärkt
wird durch die Stimmen etwa von David Bowie, Steve Buscemi oder Willem Dafoe,
die eigentümlich an Lou Reed in verschiedenen Phasen seiner Karriere erinnern,
genau wie die Musik, die sich formal bei Velvet Underground, bei “Transformer”, “Metal
Machine Music” und “New Sensations” bis hin zu den standardisierten
Wutausbrüchen des älteren Lou Reed bedient, aber weniger wie ein Selbstzitat,
sondern wie ein Spiegel wirkt. In diesem Spiegel mag Lou Reed den Edgar Allen
Poe in sich erblicken, den Mann am Abgrund, der der Versuchung nicht wiederstehen
kann, den Schritt ins Nichts hinaus zu tun, nur aus dem einen Grund, weil er
sich nicht einmal etwas von sich selbst verbieten lassen will: das Geheimnis
aller Perversion. Textlich, das deutet Reed im Covertext selbst an, sieht er
sich ohnehin via Hubert Selby und William Burroughs direkt mit Poe verbunden:
Handelnder und Opfer des großen amerikanischen Dramas.
Doch soviel Ernst wäre unerträglich:
Reeds “POEtry” schlägt oft genug ins Komische um, wenn er etwa
den tumben Lou mit dem “Rock & Roll Heart” gibt, der ungestraft
reimen darf: “These are the stories of Edgar Allan Poe / not exactly the
boy next door”, oder wenn all die Hollywood-Größen sich ausagieren
dürfen, als ginge es um die Inszenierung eines Poe-Sketches bei einer Weihnachtsfeier.
Es ist an diesen Stellen, als erinnere sich Reed an die Filme Roger Cormans,
in denen Vincent Price einer bonbonbunten POEsie sein Gesicht lieh. Oder erkennt
er gar die bei Poe durchaus gegenwärtige unfreiwillige Komik, die sich ergibt,
wenn fein gedrechselte Schrecknis und süßlicher Verwesungsgeruch -
o Ligeia, Rowena, Lenore - sich gar zu arg ballen?
Die genannten Einzelteile, die Zitate, Selbstzitate,
Parodien, Songs, würden sich allein bereits zu einem beachtlichen Stück
Musiktheater reihen, doch es macht die Ausnahmestellung eines Lou Reed aus, auf
hohem Niveau nochmals zu überraschen. Es sind vor allem zwei Kollaborationen,
die besonders heraus stechen: “I Wanna Know” mit den Blind Boys of
Alabama und “Guilty” mit Ornette Coleman. Solche Musik hat man noch
nicht gehört. “I Wanna Know” etwa ist ein mit Inbrunst vorgetragener
Gospelsong, dessen Text aber eine hochkomplexe Kontemplation psychologischer
Phänomene ist. Das erinnert an den Witz, jemand sei so gut, er könne
das Telefonbuch singen. Nun, es ist vollbracht. Und “Guilty” tut
auch zuerst so, als sei es ein Rocker, doch Coleman zerbläst die Melodie
in alle vier Winde und macht den Blick frei nach Innen, in den Wahn, in den Schmerz,
in die Hölle eines Edgar Allan Poe, eines Lou Reed. Die beiden Songs allein
sind den Kauf von “The Raven” wert, doch sollte sich niemand mit
der abgespeckten Version auf einer CD begnügen; nur nach den gesamten 36
Stücken stellt sich ein ursprünglich nicht zu erwartender Effekt ein:
Man will das gesamte Werk nochmals hören, schwächere wie herausragende
Bestandteile, egal; man will es von anderer Seite andenken, sich von einer anderen
Perspektive aus hinein versenken. Sein Spektrum ist so weit, so komplex, dass
es einen andauernd beschäftigt, zum Bücherschrank treibt, um “Tell-Tale
Heart” nachzulesen, zum Plattenregal, um “Berlin” wieder zu
hören. Edgar Allen Poes Wunsch, lieber das beste Lied einer Nation als dessen
bestes Epos verfasst zu haben, ging mit seinem oft vertonten Gedicht “Eldorado” schon
fast in Erfüllung; mit Lou Reeds “The Raven” aber hat er ein
neues, ein zeitgemäßes und völlig überraschendes Denkmal
für Edgar Allan Poe, den Songwriter, erhalten.
Lou Reed |
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THE RAVEN |
(Reprise/Warner 9362-48373-2) |
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