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Die im Dunkeln sieht man nicht  
Die späte Karriere des amerikanischen Sängers und Pianisten Andy Bey  
 

Da ist nicht einmal eine Fußnote. Da ist nicht einmal ein Eintrag im Register meiner Jazzlexika. Da ist einer fast 65 Jahre alt geworden, hat fast sein gesamtes Leben Klavier gespielt und gesungen, hat mit Sarah Vaughan oder Dinah Washington die Bühne geteilt, ist mit Sonny Rollins, Horace Silver oder Charles Mingus aufgetreten, hat Solo-Alben vorzuweisen und wohl einen alten, abgeschabten Koffer voller begeisterter Kritiken, aber alles, was wir wissen, was wir wissen könnten über diesen Andy Bey, beschränkte sich bis vor kurzem auf ein paar flickrige Augenblicke in dem Chet-Baker-Film "Let’s Get Lost" oder ein, zwei Stücke auf Samplern, die "Jazz in Paris" heißen und sich anhören, als ob damals Jean-Paul Sartre jeden Abend Marlon Brando einen Zungenkuss gegeben hat: schmatzende Bohème.
     Das kann es einfach nicht gewesen sein, das war’s auch noch nicht, denn soeben erschien mit "Tuesdays in Chinatown" eine CD, die es rechtfertigt, diesen Andy Bey jetzt, am Abend seiner Karriere, wie man so sagt, noch einmal einem großen Publikum, wie man so hofft, vorzustellen.
     Newark liegt für viele auf der falschen Seite des Hudson, in New Jersey also. Aus Europa kommend landet man am dortigen Flughafen, um gleich nach Manhattan überzuwechseln. Was versäumte man auch? Autobahnen, ein kleines Portugiesenviertel, Schnapsläden, deren Zahl nur noch von der kleiner Barackenkirchen und Sekten-Kapellen übertroffen wird, eine verödete Innenstadt hinter Stacheldraht und voller zerbrochener Fensterscheiben - Zeichen der Verwahrlosung einer tristen Gegenwart mischen sich Jahr um Jahr mit den nie behobenen Schäden aus dem Unruhenjahr 1967, als sich hier die schwarze Bevölkerungsmehrheit Newarks mit der Polizei ein paar Nächte Bürgerkrieg leistete. Doch Newark ist nicht nur finsterste Getto-realität, sondern auch die Heimat vieler afroamerikanischer Künstler: Der Dichter Amiri Baraka lebt hier, Little Jimmy Scott wuchs hier auf und Sarah Vaughn und Grachan Moncur III und Dutzende anderer Jazz-Nobilitäten. Und auch Andy Bey, der ähnlich wie Jimmy Scott einst eine Art Kinderstar war, weil das neue Medium Fernsehen nach bezahlbaren Attraktionen lechzte: Der nette Bub in seinem Anzug, wie der schön Klavier spielt und singt und einen Diener macht. Mit den regelmäßigen Auftritten in "Startime Kids" war es vorbei, als der Stimmbruch dem Jungen einen volltönenden, angeblich vier Oktaven umfassenden Bariton bescherte, ein veritables Macho-Instrument. Schüchtern, wie Andy Bey zumindest auf älteren Fotos wirkt, versteckte er sich hinter dem Klavier und den Stimmen seiner Schwestern Salome und Geraldine: Andy Bey & The Bey Sisters tingelten mit einem leutseligen Programm durch jene Clubs, die auch noch ein Jahrzehnt nach den größten Erfolgen eines Lionel Hampton, Louis Jordan oder Cab Calloway noch immer ein wenig Jazz mit viel Klamauk gemischt hören wollten, Songs voller "Scoubidou" und "A Bop She Boom", voller Jive Talk für alternde Hep Cats, gern mit Baskenmütze. Und die konnte Andy Bey gleich auf lassen, als er sein Familienunternehmen 1958 nach Spanien und anschließend nach Frankreich verlegte. Die wilden Party-Jahre in Paris mit Engagements im Olympia, im Blue Note oder Mars Club verhalfen dem Geschwister-Trio zu einer angemessen erfolgreichen Rückkehr nach Hause, nach Boston ins Storyville, nach New York in den Versailles Club und zu zwei LPs auf Prestige, die heute als eine CD wiederveröffentlicht sind: "Andy Bey & The Bey Sisters". Natürlich ist dies Musik à la mode und während Andy, Salome und Geraldine "Besame Mucho" schmachteten, durchlebte das Jazz-Genre vielleicht seine vitalste Zeit zwischen Hard Bop, Free Jazz und Funk: Aber mit dem Abstand von vierzig Jahren kann und darf man die Musik anders hören, kann, darf und muss man anerkennen, dass die Duette und Terzette von einer oft genug todesnahen Existentialität geprägt sind, gleichermaßen unterhaltsam und aufwühlend, selten eindringlich, von kaum zu übertreffender Inbrunst. Und musikalisch unerschrocken: Songs von Ray Charles und Thelonius Monk auf einer Platte, das ist heute wie damals wohl eher die Ausnahme. Und Käufer für diese radikale Unterhaltungsmusik waren dies auch. Andy Bey löste das Trio Mitte der 60er Jahre auf und jobbte sich als Pianist durch angesagte und vergessene Combos, froh, dass ihn der Choleriker Mingus nicht mit Fußtritten traktierte, froh, das Horace Silver seine Stimme mochte, froh, dass einer wie Gary Bartz einen wie ihn brauchen konnte: einen alternden, schwulen, afroamerikanischen Sänger mit einer bunten Vergangenheit und einer eher eintönigen Zukunft an den äußersten Rändern des Musikbetriebs, jeden Tag weiter hinaus gleitend in das große Vergessenwerden, bis hinüber nach Graz zu einer Gastprofessur, gut bezahlt, aber langweilig.
     Mitte der 90er Jahre suchten zwei Anwälte aus dem Musikgeschäft einen Sänger für eine CD mit Balladen; über alte Kollegen kam der Kontakt zu Andy Bey zustande und für den mittlerweile HIV-positiven Außenseiter begann eine vierte Kleinkarriere. Drei Platten hat Andy Bey seither aufgenommen, "Tuesdays in Chinatown" erschien nun auch in Deutschland und verdient mehr als mildes Interesse. Die CD beginnt etwas schwülstig mit dem Titelstück, aber macht einen vertraut mit einer Stimme, der man anhört, wie sehr sich ihr Besitzer zurück nimmt, um nicht mit ihren rein physischen Möglichkeiten zu protzen. Fragil klingt sie, sehnend, mit all den Abzeichen eines Lebens, das nie geradlinig, das nie problemlos verlaufen ist. Sie tastet sich durch Standards und neuere Popsongs, durch südamerikanische Melodien und Südstaatenblues, eröffnet Räume in einer Lebenswirklichkeit, die von uns Hörern vorsichtig und mit Respekt durchschritten sein wollen. Hier teilt sich einer mit, der dem Frieden nicht mehr oder noch nicht so ganz zu trauen scheint; er macht uns ein schüchternes Angebot und ist wohl selbst am meisten davon überrascht, wenn wir es anzunehmen bereit wären, jetzt, nach all den Enttäuschungen. "Everytime we say good-bye I die a little", jeder Abschied deutet auf das gewisse Ende hin, heißt es in einem alten Cole-Porter-Song. Andy Bey hat sich in seinem Leben von so vielem und so vielen verabschieden müssen, dass diese jenseitige Qualität zum Kennzeichen seiner Kunst geworden ist. Im November kommt er nach Deutschland, um sie spät, aber nicht zu spät mit uns zu teilen.

Andy Bey & The Bey Sisters  
"Andy Bey & The Bey Sisters" (Prestige/ZYX PRCD 24245-2)
   
Andy Bey  
"Tuesdays in Chinatown" (Minor Music MM 801099/In-akustik)

01.11.02 Hamburg Kurio Haus (Aidsgala)
08.11.02 Aalen JazzFestival
11.11.02 München Bayerischer Rundfunk
14.11.02 Berlin Soultrane
30.11.03 München Unterfahrt

 

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