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Hau weg den Leibstuhl!  
Die Mittvierziger melden sich vehement zurück  
 

Die Überschrift ist leider vom New Musical Express geklaut. Begeistert und auch ein wenig fassungslos durfte ein junger Kollege dieser inzwischen zur Erstsemesterpostille mutierten Musikzeitschrift aus London miterleben, wie ein paar Bierbäuche aus Detroit unter dem ehrwürdigen Namen MC5 das Haus rockten. Ähnlich euphorisch hatte der NME bereits über Paul McCartneys Gastspiel im BritPop-Mekka Glastonbury berichtet und in amerikanischen Zeitschriften liest man gleiches: Die wieder vereinten Ex-Punks Rocket From the Tombs, Mission of Burma und Television setzen Maßstäbe auf den Rockbühnen der Welt. Und wer sollte die Intensität der Rolling Stones toppen, wenn sie an einem fast intimen Ort wie dem Circus Krone-Bau in München losgelassen werden auf drei Generationen staunender Fans? „Alte Säcke!“ höre ich da und „Dinosaurer! Lebende Leichen!“ und muss schulterzuckend darauf verweisen, dass selbst diese Anwürfe aus einer Zeit stammen, als oben genannte Bands noch die jungen Wilden waren. Dabei kann sich der Freund rabiater Gitarrenmusik seit gut einem Jahr kaum mehr retten vor neuen, angeblich sensationellen Rabauken mit angemessen schlechten Manieren, die gekommen sind, um der Achselbehaarung wieder zu einem guten Namen zu verhelfen. Doch wer ein Konzert etwa der Datsuns oder Kings of Leon besucht hat, kennt den himmelweiten, pardon: höllischen Unterschied zwischen den teils tatsächlich mitreißenden Songs dieser Bands (auf CD) und ihrem amateurhaft-tappsigen Live-Gebahren, das entweder ein gewisses Maß an Trunkenheit oder Drogendelirium für abendfüllend hält oder sich darin erschöpft, stocksteif auf der Bühne zu stehen und bloß keinen Fehler zu machen. Angefeuert von Hype-Profis wie eben dem NME, denen im Zweifelsfall jede Schlägerei zwischen diesen Viertelberühmtheiten der Saison wichtiger ist als die Songs, die sie spielen, überspringen Libertines oder Black Rebel Motorcycle Club gleich die Phase in der Bandgeschichte, auf die sich ein gewisser Anspruch auf ein Interesse der Gegenwart wie der Zukunft an ihrem Tun gründen könnte, und treten sofort in den Karriere-Abschnitt „Katastrophe“ ein: vom Tellerwäscher zum Junkie in einem Sommer. Da lacht Keith Richards, bis ihm der Wodka aus den Augen läuft.
     Selbstdestruktion scheint zur Rockmusik zu gehören wie das Zungenpiercing zur Wurstthekenmechatronikerin. Und auch die wiedergekehrten oder niemals weg gewesenen Nick Caves, Tom Waits’ oder Iggy Pops dieser Welt haben ihr Soll an Wahnwitz übererfüllt: „My Mama told me / if I was goody / that she would buy me / a rubber dolly.“ Was sollte auch aus solchen Kindern werden? Nun, Klassiker der Moderne. Und das Problem dieser Klassiker, dieses Kanon-Futter der Popmusik, besteht darin, dass man am Leben ist, nicht über ein abgeschlossenes Werk verfügt, sondern sich ständig weiter mitteilen will und muss: Es mache entweder zu viel Spaß oder man verdiene einfach zu leicht Geld damit, um einfach aufhören zu können, meinte Greil Markus einst in einem Münchner Biergarten und bestellte das nächste Mineralwasser. Live machen die mit selbst geäußerten „Boring Old Fart“-Anwürfen groß gewordenen Musiker weiter, in dem sie das ureigene Repertoire einer genauen Prüfung unterziehen, um es dann mit höchstem Druck und gestützt von langjähriger Erfahrung mit einer Unmittelbarkeit zu präsentieren, die zur Zeit ausreicht, um die Jüngeren in Schach zu halten. Im Studio schaut das ganz anders aus: Hier steht die Generation Punk vor dem Dilemma, aus dem Wissen um die eigenen Fähigkeiten keine Selbstparodie werden zu lassen, aus dem Wunsch, mit der Zeit zu gehen kein trendiges Hinterherhecheln. Aber die 40-Somethings wittern ihre Chance, erkennen die offenkundigen Schwächen ihrer Nachfolger und veröffentlichen in diesem Herbst neue Alben, als gäbe es kein Nachweihnachtsgeschäft mehr. Prince versöhnt seine Fans halbwegs mit „Musicology“, die Beastie Boys arbeiten weiter an der Befreiung Tibets, ein Paul Weller feiert Hitparadentriumphe als Joe Cocker-Double. Fat Boy Slim verkündet das nahe Ende der elektronischen Tanzmusik und geht wieder ans Handgemachte. Das marxistische Pop-Monument The Mekons hat dieses Handgemachte nie verlassen und offeriert nun eine geglückte Werkschau mit dem Titel „Heaven & Hell“. In den USA, der Wahlheimat der Mekons, verkauft der König der Baby Boomer Jimmy Buffett ohne größere Marketinganstrengungen seine Dosenbiermusik im Platinbereich. Graham Nash und David Crosby versuchen es ihm nachzumachen. Mark Eitzel hat seinen American Music Club reformiert und lockt mit „Love Songs for Patriots“ – ein wunderbares Comeback dieses Operettenkünstlers. Elvis Costello drängelt gleich mit drei CDs in die Läden: mit einer aufgemotzten Ballettmusikaufnahme namens „Il Sogno“, mit einem Re-Issue von „Kojak Variety“, das drei Dutzend Cover-Versionen präsentiert – genug also, um jedes Klassentreffen zu beschallen – und mit „The Delivery Man“, wo er teils klingt wie Tom Waits für Juristen. Auch Tom Waits hat der Welt etwas zu sagen, nur versteht man es so schlecht, weil es sich anhört, als hätte er „Real Gone“ mutterseelenallein in der Garage aufgenommen, während im Nachbarhaus jemand eine alte Beefheartplatte auf einem kaputten Anrufbeantworter abgespielt hat. Nick Cave singt dafür seine brillanten Texte wie einst im Morgengrauen und U2 und R.E.M. lassen von ihren Plattenfirmen schon mal prophylaktisch Regalplatz in Drogeriemärkten freischaufeln, wo sich dann vielleicht auch noch ein paar Zentimeter finden werden für Giant Sand oder die Silos, denn auch Howe Gelb und Walter Salas-Humara melden sich energisch zurück: Krise, wo ist dein Stachel? Wer in diesem Pop-Herbst nichts falsch machen will, kauft sich vielleicht die CD der Libertines oder von Bondies und geht auf ein Konzert des American Music Clubs oder der Bad Seeds, dann hat er vielleicht das Beste beider Generationen im alten Sack.

 

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