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Und diese Bewegungen verlangten nach
einer neuen Choreographie, nach einer neuen Musik, nach einem neuen
Ton, nach einer neuen Sprache: Mit den Diadochen des alten Regimes
ist keine Kultur mehr zu machen. Sie verwalten nur mehr die verkohlten
Relikte einer abgewirtschafteten Epoche. Das 20.Jahrhundert hat
man ihnen schon abgerungen. Im 21. Jahrhundert wird man sie vergessen.
Der Künstler unserer Zeit hat besseres zu tun, als Feuilletonisten
mit Debattenmaterial zu versorgen.
Und nicht seine geringste Aufgabe
ist es, Friseursalons zu beschallen. Doch davor drückt er sich nach
wie vor: So erscheint Ende April eine Zusammenstellung elektronischer
Musik auf dem Mille-Plateux-Label, das den Friseursalon-mäßig kaum
zu überbietenden Titel „Clicks & Cuts 2" trägt und eine nur sensationell
zu nennende Werk- und Leistungsschau zeitgenössischer Musik aus
tausend Rechnern darstellt - „überall webende und rotierende Bewegungen"
- kleinste Fitzelchen Information, Fehler, Abfall, Leerstellen,
Störgeräusche, all die Körpergeräusche des eben erwachenden body
electric, geordnet zu Rhythmen (oder auch nicht), gefasst in Muster
und Baupläne von neurologischer Komplexität (oder auch nicht), aneinander
gekettet durch eine oberflächliche Ähnlichkeit und den schieren
Gestaltungswillen jener Personen, die als Random_Inc, als
KID606 oder M² sich in das Tableau des schwer
zu durchschauenden Subjekt/Objekt-Spieles einscannen. Oder auch
nicht. Nur stellen sich die Protagonisten dieser Musik und ihre
Propheten Philip Sherburne, Diedrich Diederichsenund Achim Szepanski,
die das Beiheft mit kurzen, klugen Texten aufwerten, fast reflexhaft
mit einem Bein in den Club und mit dem anderen in die Galerie. Das
Leben außerhalb des Kunst/Szene-Gettos bleibt außen vor. Dabei verlangt
diese Musik - genau wie ihr entfernter Cousin von der elektro-akustischen
Musik-Fraktion - nach verstärkter Anwendung im Alltag: Der Raum
füllt sich mit kleinsten Irritationen, ein erkennbar elektronischer
Puls taktet die Zeit, zerlegt sie aber in unregelmäßige Einheiten,
stört, versöhnt, pulst nach dem neuen ästhetischen Gesetz der Nullen
und Einsen, wärmt. Hier wird man nicht mehr durch Muzak eingelullt,
durch seichte Gebrauchsklassik verblödet, durch esoterisches Gebommel
zum Spinner degradiert, sondern von den irregulären Wellen eines
neuen, noch zu entdeckenden Ozeans umspült, von dem wir eben den
Klang hören, den wir aber vielleicht noch nicht zu Gesicht bekommen
haben: the new frontier. Und ihre Musik als kleine Mahnung, dass
wir endlich sind und uns noch ein paar Dinge vorgenommen haben,
bevor der Stecker gezogen wird. Zum Friseur gehen etwa. Um bei „Clicks
& Cuts" mehr als einen Haarschnitt zu bekommen: die Stimulation
für ein Leben in der elektronischen Wirklichkeit nämlich.
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Verschiedene Interpreten |
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CLICKS AND CUTS |
(Mille Plateux 98/EfA
08098-2) |
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