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Nur ein toter Song ist ein guter Song Teil 1 : 2
Console vs. Tocotronic: ein alternativer Sommerhit  
 

Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, man weiß es aus der Heiligen Schrift, als ein guter Song in die Hitparaden ein, aber diese Woche könnte es so weit sein: "Freiburg V3.0" von Tocotronic/Console steht draußen in den Deutschen Alternativcharts und will rein in die Verkaufshitparade. Aber auch ohne dieses letzte Signum für wahren Pop wird diese CD-Single, die rein quantitativ betrachtet mehr Musik bietet als seinerzeit eine durchschnittliche Frank-Zappa-LP, ihre Spuren hinterlassen in der Seelenlandschaft dieser neuen Republik, dieses neuen, noch unverspurten Jahrzehnts. Wie das durch Mauerschlitze gefädelte Kamel ist "Freiburg V3.0" notgedrungen das Ergebnis einer Zuspitzung: Wo eben noch Höcker waren und Hufe groß wie Damenhüte, ist plötzlich alles scharf und spitz und zielgerichtet, ein nodaler Punkt, wie der Science-fiction-Visionär Bill Gibson das nennt.
     Eintrittswunde: Tocotronic sind eine Rockband mit Sitz in Hamburg und biographischen Verwurzelungen im Breisgau, die in den 90er Jahren durch betont ungekämmtes Haar, prägnant-umständliche Textzeilen und reichlich Gitarren aufgefallen sind; für sie wurde der Begriff der "Hamburger Schule" mit geprägt. Ihr letztes Album "K.O.O.K" zählt zu den herausragenden Platten des Genres. Martin Gretschmann ist Console, der Name bereits Programm: Die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine bleibt im Nebulösen. Wer hier wen bedient, ist rätselhaft und nebensächlich. Am Computer bastelt sich Gretschmann seine detailverliebte, aber selten referentielle Popwelt; erste Meriten verdiente sich der Mann aus Weilheim als Mitglied von Notwist und mit dem Stück "14 Zero Zero", das auf dem Umweg über einen Sampler des BR-Jugendprogramms "Zündfunk" plötzlich und verdientermaßen überregionale Beachtung fand.
     Austrittswunde: Im Jahre Doppel-Null ließen sich Tocotronic, wie man das heutzutage so hat, von Elektronikmenschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis remixen, das heißt, sie offerierten ihre Stücke zur Neukonstruktion unter möglicher Verwendung des Originalmaterials, um die Ergebnisse im August als eigene CD veröffentlichen zu können: Der Titel dieser Remix-CD lautet betont lakonisch "K.O.O.K. Variationen". Auch Martin Gretschmann legte Hand an einen Tocotronic-Song, doch keinen aus der so erfolgreichen "K.O.O.K."-Phase, sondern er nahm sich "Freiburg" vor, den ersten Song von der ersten Tocotronic-LP überhaupt. Die Band scheint vom Ergebnis so angetan, dass der Remix "Tocotronic vs. Console - Freiburg V3.0" samt Video, parodistischen Trading-Cards und reichlich Medien-Ballyhoo als Vorabsingle ausgewählt wurde, um durchs bundesrepublikanische Sommerloch zu steppen als alternativer Sommerhit. So weit, so gewöhnlich.
     Treffer: "Freiburg" von Tocotronic ist ein guter Rocksong, etwas schlampig, voller ennui, cool. Der Sänger raunzt sich seine Befindlichkeit zu lava-langsamem Gitarrenmüll zwischen Neil Young und Black Sabbath von der Seele; die Beobachtung, dass sein Wohnort Freiburg im grün-alternativen Muff der ewigen Besserwisserei einer anderen, älteren, ewig-jugendlichen Generation erstickt, verdichtet er zu einer wie zur Seite gesprochenen Hasstirade auf Fahrradfahrer, Backgammon-Spieler und Tanztheater-Besucher, denen er sich nur durch eine Punkrock-Variante der inneren Emigration entziehen kann: "Ich bin alleine und ich weiß es und ich find' es sogar cool und ihr demonstriert Verbrüderung...", bevor er sich schließlich im wirklichen Leben doch nach Hamburg davon macht.

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