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Väter Söhne Enkel Teil 1 : 2
Michael Hurley, Jeff Buckley , Palace Brothers u.a.  
 

Synkretismus ist laut Brockhaus, wenn eine amerikanische Reisegruppe am Ende eines langen Besichtigungstages in den Speisesaal eines italienischen Hotels einfällt und sich wie selbstverständlich gleichzeitig an Desert- und Salatbar bedient, Parmesan über den Obstsalat streut, Öl dazu und fertig.
     Stimmt natürlich nicht, das mit dem Brockhaus, verdeutlicht aber das postmoderne Dilemma der neunziger Jahre: Was als mal gebildetes, mal eingebildetes Spiel mit bruchstückhafter Zitierweise und ironisierter Authentizität begann, was immer größeres Raffinement bei Spielern und Publikum erforderte, was die Klugen immer klüger und die Dummen immer dreister werden ließ, bis sie kaum mehr zu unterscheiden waren, das ist in diesem nicht mehr ganz taufrischen Jahrzehnt zur tumben Anarchie der Zeichen verkommen, wo keine Verknüpfung von Bedeutungen mehr stattfindet, sondern deren Verwesung: die Kompostmoderne - ein synkretistischer Kult, der seinen Anhängern verschweigt, daß sie sich an zwei einander ausschließenden Salatbars bedienen. Dafür stehen exemplarisch niederträchtig die ausreichend beschriebenen Randalierer von Rostock, die mit Malcolm-X-Mützen behütet Molotov-Cocktails nach Vietnamesen warfen, wie die als Einzelmensch harmlos bis lachhaft erscheinenden Durchschnittsschlurfis, die in grellen Trainingsanzügen, obszönen Radlerhosen und "lustig" beschrifteten T-Shirts optisch vom Sieg des Pop künden, wo sie doch nur den Triumph des Mobs und eine Verrohung der Sitten ankündigen, wo immer sie ihre in stinkende Designer-Turnschuhe gehüllten Füße auch hinsetzen mögen.
     Dieser gesellschaftliche Aggregatzustand, in dem sich avancierte und daher auch gefährliche Praktiken ästhetischer Vorhutaktionen als Allgemeingut mißverstanden sehen und ein "Anything Goes!" gar nicht mehr verkündet zu werden braucht, weil das Anything eben schon alleine rasen gelernt hat, trägt in sich die Katastrophe - allerdings nur für jene, die noch ein bißchen Restverstand und Menschlichkeit zu verlieren haben. Bunt mordet und betrügt und korrumpiert es sich genauso gut wie in Nadelstreifen - Pop goes die Reaktion.
     Will man die allgemeine Nieder-Tracht nicht umarmen und begrüßen, was eine durchaus legitime Taktik sein könnte, so bleibt nur die stete Akkumulation von Information, das Sammeln und Weitergeben von Verstandenem, vulgo Aufklärung. Was Pop angeht, bescherte uns der Zufall ein lokales Wunder der Didaktik: Während der letzten Wochen war die Historie des Singer/Songwritertums in Münchener Clubs nachzuvollziehen, als hätte ein wohlmeinender Seminarleiter seine Finger im Spiel gehabt. Den chronologischen Beginn des weißen Mittelschichtexperiments Pop repräsentiert in unserer Zufallskette Michael Hurley, dessen Vita zurückweist in die fünfziger Jahre, als die Kids in den USA ihre Körper in Bewegung setzten, um den Geist zu befreien: Beat. Reden, reden, reden, Marihuana rauchen, trinken, Sex, Gitarre spielen, Auto fahren, Auto fahren, Auto fahren, von Pennsylvania nach New York, von New York nach Boston, von Boston nach Colorado und an die Westküste, Songs schreiben, aus der Schwäche Amerikas, daß man mehr Geographie als Geschichte besitzt, Kapital für die eigene Biographie schlagen, die Dissidenzmodelle der ethnischen und sozialen Minderheiten auf ihre Tauglichkeit im Kampf gegen die Eisenhower-Ära austesten - so begann das große Spiel um Jugend und Zukunft und Glück, eine einzige verwirrte Diebestour einer Generation zwischen Allen Ginsberg und Arnie "Woo Woo" Ginsburg, dessen "Night Train Show" den Rock & Roll in die Köpfe blies. Hurley und seine Gitarre und sein Zeichenstift waren immer dabei, wenn die Nächte zum Tag und die Partys zu Workshops wurden, aber er drängelte sich nie nach einer Karriere, schrieb seine Lieder, sang, wenn jemand sie hören, nahm sie auf, wenn jemand eine Platte machen wollte. Aus vielen seiner Freunde, Sam Shepard, Holy Modal Rounders, Fugs, wurden Berühmtheiten für fünf Minuten und länger, Hurley selbst verkaufte derweilen Christbäume aus Vermont, braute Bier, jobbte als Schreiner - und so ist es heute noch, auch wenn Hurley jetzt zum ersten Mal in Deutschland auftrat, ruhig und bestimmt seine Lieder spielte, Anekdoten dazwischenknödelte, fidelte, dem Keyboard den Blues abnötigte.

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