|
"Blonde on Blonde" und "Sergeant Pepper's..." erschienen vor 31
Jahren, "Never Mind the Bollocks" von den Sex Pistols vor 21, Rap-Meilenstein
"The Message" vor 16 Jahren: gleichzeitig, weltweit, keine Deckung,
nirgends, in Radioland, in Fernsehland, in Videoland, im Lande Pop.
Volltreffer, Schiff versenkt!
Als 1952 drei Doppel-Alben mit dem
Obertitel "The Anthology of American Folk Music" erschienen, existierte
noch kein Verständnis von Pop, von halsbrecherischen, weltweiten
Teenagerverschwörungen, von Jugendkultur. Die "Anthology" versammelte
knarzalte Musik. "Die Typen, die da zu hören sind, die müssen doch
längst tot sein", dachten sich die sporadischen Käufer, ein paar
Ethnologen, ein paar Schellack-Sammler, ein paar Amateurmusiker.
Das dachte sich auch Harry Smith, der Herausgeber der in schweren
Folkways-Karton geschlagenen LPs und holte keine Rechte und keine
Genehmigung zur Veröffentlichung ein. Das hier war Troja, war Karthago:
Die Trümmer gehörten irgendwie allen.
Dabei waren die ältesten Aufnahmen
gerade mal 25 Jahre alt, die jüngsten vielleicht 20. Doch das Eisenhower-Amerika
trennte mehr von diesen raspelnden Klängen als zwei Dutzend Sonnenumläufe:
Zwischen dem "White House Blues" der North Carolina Ramblers und
den schlichten, in Blau, Grün und Rot gehaltenen Folkways-Alben
lagen eine Wirtschaftskrise, eine ökologische Katastrophe in Amerikas
Süden, ein Weltkrieg, zwei Atombomben und der Aufstieg zur strahlenden
Weltmacht in schimmernder Wehr, deren Ruhm durch die blitzende Blechmusik
ihrer Big Bands gemehrt wurde, irgendwo zwischen John Phillip Sousa
und Frank Sinatra.
Auf der "Anthology" dagegen waren
die Marginalisierten dieses ehern strahlenden Amerikazu hören, Hinterwäldler
aus den Appalachen, die in der fünften Generation ihre Cousinen
schwängern, debile Franco-Kanadier aus Louisianas Sümpfen, Negerprediger,
die an Lungenentzündung krepieren mußten, weil kein Krankenhaus
sie aufnehmen wollte, als sie in einer Winternacht, durchnäßt vom
Löschwasser, dort vorsprachen: "Unser Haus ist gerade abgebrannt,
Sir!"
Das paßte nicht zu den schnieken Reihenhäuschen
für Amerikas weißen Jedermann mit den Garagen für Amerikas Jedermann
in Jedermanns weißer, amerikanischer Suburb und Jederfrau und den
zwei amerikanischen Kindern, die daheim auf den strahlenden Bürohengst
warteten. Diese Welt konnte gar nicht mehr existieren.
Und das stimmt: Die Farmer Oklahomas
waren längst Saisonarbeiter in Kalifornien; die Neger aus dem Delta
waren in den Norden migriert und bewachten Parkplätze. Die einen
Musiker hockten in Nashville, die anderen in Mexiko, um von dort
aus ein wenig über die Grenze senden zu können. Wer nicht tot war,
war woanders. Und die vielen Schellacks, die vor unendlich weit
zurückliegenden Zeiten einmal für die Kleinstmärkte in ihren Hinterwäldlerkäffern
gepreßt worden sind, hatte der Krieg gefressen: Aus altem Schellack
mache neues - einsammeln, abliefern, einschmelzen lassen, Brot dafür
kaufen oder ein Sommerkleid.
|
Weiter
>>
|