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Ein Zeitraum, der uns als mäßig langer,
ruhiger Fluß erscheinen mag, war für die John Hurts, Eck Robertsons
oder die Gebrüder Breaux ein "River of No Return", ein Wildwasser,
auf dem zu fahren nicht wenige mit dem Leben bezahlten. Über ganz
Amerika verstreut gab es weniger als eine Handvoll Sonderlinge,
die an den musikalischen Äußerungen dieser gebeutelten Wesen vom
Rande der amerikanischen Tiptop-Gesellschaft Interesse zeigten:
Chris Strachwitz von Arhoolie Records, Vater und Sohn Lomax, Moses
Ash, der Gründer von Folkways. Und Harry Smith, eine Mischung aus
Drogenfreak, Wissenschaftler und Beatnik.
Gut hätte er in Kerouacs Bücher gepaßt
(vielleicht kommt er ja vor), wie er mit seinem Tonband kultische
Drogenrituale der Indianer Nordwestamerikas aufnimmt, wie er Lagerhallen
und Hinterzimmer in abgelegenen Wüstenkäffern manisch nach Schellacks
durchforstet, wie er sich beim Arbeitsamt als "Spezialist zur Bemalung
von Entenattrappen" registrieren läßt, auf daß ihn keine mögliche
Arbeitsvermittlung von seinem Wohlfahrtsscheck und seiner Sammelleidenschaft
abhalten möge. Chronisch bankrott wendete sich Smith um 1950 an
Folkways und bot seine Schellack-Sammlung zum Verkauf an. Aus dieser
Verzweiflungstat entstand schließlich die "Anthology", ein hermetisches
Kunstwerk, dessen Geheimnisse heute noch nicht alle entschlüsselt
sind.
Dies beginnt mit den numerologischen
und alchemistischen Komponenten der Auswahl, Abfolge und inneren
Beziehung der Stücke und findet mit Zitaten von Rudolph Steiner
bis Aleister Crowley auf dieser ersten aller intellektuellen Pop-Platten,
auf diesem ersten Mix noch kein Ende. Dazu kam die fanzine-mäßige
Bebilderung des umfangreichen Beiheftes und die umwerfend komischen,
zu Zeitungsüberschriften eingedampften Zusammenfassungen Smiths
von den tragischen Vorfällen in all den Balladen und schwermütigen
Liedern: "KAPITALISTENTRAUM VOM GROSSEN GELD AN EISBERG ZERSCHELLT!
MANN UND MAUS AUF BILLIGEN PLÄTZEN ERSAUFEN ZUERST!" All diese Lieder
und Tänze hatten bis zur "Anthology" isoliert auf einzelnen Schellack-Seiten
existiert, isoliert auch durch die geographische Entfernung zwischen
den an den Rand gedrängten Bevölkerungsteilen, isoliert durch deren
chronischen Geldmangel und den damit verbundenen, erschwerten Zugang
zu Kommunikationsmitteln - alle Aufnahmen entstanden vor der flächendeckenden
Verbreitung von Radio und Tonfilm, in Smiths Welt Beginn einer großen
Sonderung des archaischen Musikmaterials.
Smith behauptete als erster eine Gemeinsamkeit
zwischen diesen Aufnahmen, eine amerikanische Gemeinsamkeit. Smith
stiftete Identität: die Identität eines facettenreichen, gebrochenen
Bildes einer Nation. Einer, wie Greil Marcus es nennt, "unsichtbaren
Repblik". Und Smith konnte auf dem nagelneuen Medium Langspielplatte
den Beweis für die Gemeinsamkeit antreten, da er erstmals die verschiedenen
Musiken nebeneinander stellen konnte, an einem Stück hörbar - und
ohne jeglichen Hinweis auf die Hautfarbe der Interpreten, damit
offen die damalige Praxis der Segregation attackierend und ad absurdum
führend.
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