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Die neue Empfindsamkeit (Fortsetzung) Teil 1 : 2 : 3
 

     Postrock also: Begonnen hat all dies mit einer Formation namens Tortoise, die 1994 mit ihrem selbstbetitelten Debüt die Wertigkeiten innerhalb der Rockmusik auf den Kopf stellten: Jazzpartikel statt Iggy Pop, Nonverbalität statt Slogans, Klangfelder und Soundscapes statt durchgehendem Rhythmus und Liedform. Ennio Morricone statt Howling Wolf. Die neue Methodik war so schlagend richtig, so spannend, daß Tortoise auf Anhieb die Richtschnur abgaben für alle weitere progressive Rockmusik in den 90er Jahren, und mit dem Stück "Djed" von ihrer zweiten CD lösten die nie nur in einer Gruppe tätigen Musiker um Schlagzeuger und Produzenten John McEntire die Ansprüche an den neuen Klang, die neue Welle in der Rockmusik ein: digitale Störgeräusche mutierten zu Taktgebern einer neuen Ästhetik, bisher dezidiert negativ belegte Instrumente wie Vibraphon wurden hoffähig - aber nicht, weil ein neuer Hype anstand, sondern weil die Musik von Tortoise aus sich selbst heraus legitimiert und "an der Zeit" war.
     Wie nicht anders zu erwarten, zog die Schwerkraft des Schwarzen Loches Tortoise jede Menge musikalischen Schotter an, der seither als Akkretionsscheibe um die dunklen Stars kreist: Wir kennen inzwischen zwei, drei, viele kleine Tortoise, die unter den Namen Labradford, Brokeback, Aerial M oder Trans Am Platten machen dürfen, wo früher keine Plattenfirma der Welt nur eine müde Mark investiert hätte. Und die meisten Stücke dieser Gruppen sind: gut. Im Sinne von unpeinlich, cool, leise, brav, verletzlich, zurückhaltend. Eben und auch: empfindsam. So empfindsam, daß es sich einer der Tortoise-Verwerter in der 3. Generation schon erlauben kann, "The New Sensitivity" als Titel für eine Komposition zu wählen. So weit, so ätherisch: Rock hat seinen Postrock, wie die Moderne einst ihre Postmoderne (wer redet noch von ihr?) verpaßt bekam.
     Soweit alles in Butter, oder? Krise erkannt, Krise gebannt. Alte Hüte bitte an der Garderobe zum Sampling abgeben: Punk existiert nur noch als adoleszente Partymusik oder moralinsaurer Gesinnungsklimbim; Heavy Metal und Abarten sind weitgehend obsolet geworden; Blues wird immer mehr zum Kunsthandwerk, und im Sommer spielen die Rolling Stones wieder für die ganze Familie im Olympiastadion.
     Doch, Einspruch: Die Krise ist nicht beseitigt. Der um der Verständigung willen nun einmal "Postrock" genannte Sound löst keine Probleme; er kaschiert sie nur bis zur Unkenntlichkeit. Rockmusik verliert durch den weitgehenden Verzicht auf ihren verbalen Bestandteil einen wichtigen Teil ihrer magischen und gesellschaftspolitischen Relevanz.
     Musiker und Produzenten, die in den 90er Jahren mit ihrer Tätigkeit begonnen haben, bemerkten ebenso schnell wie richtig, daß es leichter und schneller geht, einen Computer und die passende Software zu bedienen, als Gitarre zu lernen oder Trompete oder Saxophon. So wie Snowboarden oder Carving im Wintersportbereich sich nicht zuletzt deswegen einer großen Beliebtheit bei Jugendlichen erfreuen, weil man ohne viel Lernaufwand relativ schnell zu ausreichenden Resultaten gelangt und dann den Rest seiner kostbaren Freizeit in Fichtenschonungen und Halfpipes verbringen kann, so spielt diese "instant gratification" auch in der Popmusik der 90er Jahre eine immense Rolle. Nur um nicht mißverstanden zu werden: Hier geht es keinesfalls um Handwerk, sondern um Haltung. Mir ist jeder Übungsraum-Gitarrist, jeder DJ mit einem frischen Blick auf die Welt und ihre Musik lieber als ein technisch versierter John-McLaughlin-Klon. Aber was ein Übungsraum und was ein Klon und was ein John McLaughlin ist, das sollte man schon wissen.

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