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Es genügt, eine Stunde lang MTV zu schauen. Oder Viva. Eigentlich
reicht es bereits, mit der Fernbedienung einmal quer durch die Fernsehkanäle
zu zappen. Das Urteil über das Gesehene und Gehörte muß verheerend
ausfallen: So omnipräsent Popmusik ist, so korrupt und qualitativ
schlecht stellt sie sich in ihrer Mehrheit Mitte der neunziger Jahre
dar.
Zoom: ein bestimmter Teil von Pop
erfüllt die Funktion des Seelentrösters für Baby Boomer, hierzulande
konsequent geschichtsfälschend Achtundsechziger genannt, ist Musikfusel
und akustische Hämorrhoiden-Crème: Phil Collins, Joe Cocker, Tina
Turner. Schalt dein Radio ein...
Ein anderer Teil ist für das Seelenwirrwarr
der Pubertierenden zuständig und verschließt sich daher den Älteren
und auch jeglicher Kritik: Take That hier, Kinder-Techno da.
Überhaupt Techno, Jungle, House: Hier
etablierte sich wenigstens ein international funktionsfähiges Netzwerk
aus Körperlichkeit, Kommerzialität und Stilbewußtsein, das mit den
Widersprüchlichkeiten von Underground und Oberfläche, von technisierter
Avantgarde und hemmungslosester Befriedigung von Grundbedürfnissen
einem am Reißbrett konstruierten Ideal-Pop am nächsten kommt - keine
Spielart der Popmusik ist heute ausschließlicher jugendlich, weil
die physischen Anforderungen an eine Teilhabe an Techno einen Dreißigirgendwasjährigen
ebenso auf Dauer überfordert, wie das intellektuelle Potential von
Techno den gleichen Menschen unterfordert. Was keinesfalls abwertend
gemeint ist: bester Pop ist immer auch Avantgarde für Doofe und
Faule. Rave on!
HipHop? Die avancierteste Form afroamerikanischer
Popmusik ist immer mehr wie chinesisch Essen gehen: irgendwie gut,
aber man ist froh, daß man nicht so genau weiß, was da alles in
der blutfarbenen Soße mitschwimmt.
Bleibt noch die zeitgenössische Rockmusik,
der gitarrengetriebene Lärm, bleiben Punk und die Folgen. Nichts
vermag zwei Gitarren, Baß und Schlagzeug zu überbieten, hat Lou
Reed einmal geschrieben. Damit hatte er auf eine puristisch-eigensinnige
Weise Recht, denn die genuin dissidente Einstellung zum "Falschen"
läßt sich auch 1995 noch am einfachsten über die Produktion von
temporär "Richtigem" zumindest simulieren: Man kann immer noch so
tun, als träte man durch die Gründung einer Band, das Schreiben
eines Songs und das Leben eines Rockers aus den komplexen Zusammenhängen
einer regionalen oder nationalen Kultur heraus, um in einen internationalistischen,
einer Utopie verschriebenen Gegenraum einzutreten, auch wenn dem
größten Simplicissimus bewußt ist, daß diese Alternativwelt auch
nur ein Privileg ist, das eine bestimmte Wirtschaftsordnung den
wilden Kindern des Westens gewährt.
Um mit diesem zutiefst demütigenden
Wissen um die Widersprüchlichkeit von Sein und Schein leben zu können,
haben Rockmusiker im Lauf der Jahrzehnte bewußt oder unbewußt verschiedene
Strategien entwickelt: Provokation bis hin zum Tabubruch, Selbstzerstörung
bis hin zu Mord und Selbstmord, Anpassung bis hin zur Übernahme
von gesellschaftlicher Verantwortung.
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