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Cleveland, Ohio: Eine Industriestadt. Stahlwerke, Rüstungsfabriken,
Lastkähne, die den Fluß hinauf fahren. Erzschütten. Krach, Lärm,
Gestank, seltsame Lichtspiele am Nachthimmel, Dosenbier, Männerschweiß.
Mittendrin eine Gruppe von vielleicht fünfzig Menschen, die mehr
wollen, etwas anderes, und trotzdem lieben, was sie umgibt. Intelligente
Spinner, die nicht aufs College fliehen, die windige Jobs annehmen,
um möglichst viel zusammen abhängen zu können, die Musik machen,
Hippies hassen. Sie und Gleichgesinnte in den Nachbarstädten werden
Bands gründen, die Devo heißen, Tin Huey, Dead Boys, DNA, Bizzaros
oder Pere Ubu; sie werden sich auf dem Weg dorthin durch ein Dutzend
anderer Projekte rocken, fiepen, orgeln, quäken. Sie werden ein
Haufen hoffnungsloser Scheißer sein mit einer neuen, zeitgemäßen
Form des SUMMERTIME BLUES, die mit der Eddie-Cochran-Hymne soviel
zu tun haben wird wie ein explodierendes Space Shuttle mit dem Sputnik...
Zwischen 1972 und 1975 formierte sich
diese seltsame Gruppe junger Menschen. Sie hatten verschiedene Treffpunkte,
einen Plattenladen, einen Club am Fluß, der sie Donnerstags auftreten
ließ und das Plaza an der 23. Straße, das einem gewissen Allen Ravenstein
gehörte, wo man proben, abhängen, Feste organisieren konnte. Ein
Fixpunkt der Szene war ein dicker, großer Kerl mit einer Afrofrisur
namens David Thomas, der als Rausschmeißer in einer Bar jobbte und
ein Doppelleben als Crocus Behemoth führte: Seine Band nannte sich
Rocket from the Tombs. 1975 war es mit ihr zu Ende. Ihren letzten
Auftritt spielte die Rocket im Juni auf einem Hardrockfestival.
Im Herbst war es vorbei: Crocus oder
David wollte allerdings die Rocket-Musik retten, aufzeichnen, verewigen.
Dazu bestellte er seinen Gitarristen Peter Laughner in den Übungsraum,
den Stahlarbeiter Tom Herman, den Soundman Tim Wright, der Baß lernen
mußte, Allen Ravenstein, weil der einen analogen Synthesizer hatte,
und den Allzweckschlagzeuger Scott Krauss. Man übte. Man diskutierte.
Man nannte sich Pere Ubu nach Alfred Jarrys Prä-Surrealismus-Klassiker,
weil "höchstwahrscheinlich niemand etwas mit dem Namen anfangen
konnte". Man gründete das Label Hearthan und veröffentlichte eine
klassische Single nach der anderen: FINAL SOLUTION, 30 SECONDS OVER
TOKYO, STREET WAVES, THE MODERN DANCE. Allen Ravenstein stieg mal
aus, mal ein; Tim Wright zog nach New York und gründete DNA mit
Ikue Mori und Arto Lindsay. Punkrocker Peter Laughner wurde gefeuert;
seine Heroin- und Streitsucht führten ihn noch durch einige Bands
zum frühen Tod mit 24, der laut Lester Bangs eintrat, "weil er wie
Lou Reed sein wollte". Für Pere Ubu folgten erste frustrierende
Gigs in New York, die mit Coverversionen von Dylan über Stooges
bis Seeds angereichert wurden, Samplerbeiträge und die allwöchentlichen,
heute legendären Konzerte in der Pirate's Cove zu Cleveland. Ein
Augenzeuge: "Es stimmt schon; Pere Ubu spielten Volksmusik. Es war
die Volksmusik eines seltsamen Stammes mit vielleicht 50 Mitgliedern.
Sie waren allein, isoliert. Sie liebten ihr Land, das eine Stadt
war. Nur verschwanden deren Einwohner bei Einbruch der Dunkelheit;
sie wurde zu einer versunkenen Welt voller leerer Brücken, Häuser
und Denkmäler, die in einer fremden Sprache die vergessenen Träume
der Väter flüsterten. Das alles war zu stark für uns. Oder wir waren
zu jung."
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FINAL SOLUTION
Rocket from the Tombs
30 SECONDS OVER TOKYO
HEAVEN
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