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"I don't know what it is, I just play it..." Teil 1 : 2
Abteilung 4, in der weiße Studentlein in Sack und Asche gehen und Bob Dylan dreißig Jahre braucht, um seinen Stoff geregelt zu kriegen.  
  Ende der fünfziger Jahre war dank ein wenig Doo-Wop und jeder Menge Rock'n'Roll und noch viel mehr Schlagermusik der Blues so tot wie Schneewittchen. Da gab es hier ein wenig elektrifizierten Lärm auf Chess Records oder brave Sammler wie Chris Strachwitz bei Arhoolie, die in Zwergentreue den Glassarg bewachten, dort ein paar Jazzer, die den Blues taten, aber das schwarze Amerika zuckte zu anderen Sounds, soulful oder a capella: Der Neger in der Arbeitshose mit Gitarre, der Rumtreiber im schäbigen Anzug war sowas von out - Blues? Nein, wirklich nicht...
     Wie immer aber, wenn die breite Mehrheit beginnt, eine Kunstform besonders degoutant zu finden, übernimmt eine randständige Gruppe Hipster gern die Rolle des Prinzen und weckt die schlafende Schöne durch einen Kuß oder läßt den Sarg fallen, um bei Schneewittchen zu bleiben.
     Was in den neunziger Jahren der Easy-Listening-Musik oder dem Schlager wiederfuhr, geschah gegen Ende der Eisenhower-Ära mit Blues und Bluegrass. Studenten in Boston entdeckten während ihrer komplexen Studien in Harvard oder am Massachussetts Institute of Technology die Schönheit des einfachen Lebens und verehrten vermeintlich uramerikanische Werte wie Ehrlichkeit, Unverdorbenheit und Aufrichtigkeit. Die fanden sie eher in den kratzenden Rillen alter Schellacks mit Liedern der einfachen Menschen vom Lande als auf den Grillpartys ihrer Eltern, die den heimischen Garten mit falschen Südsee-Utensilien zu einem Exotik-Surrogat verfremdeten.
     Wer so wunderfeine Musik machen konnte, mußte ein guter Mensch sein: Der saufende und hurende Bordell-Musikant mutierte in der Phantasie der wohlbehüteten Studenten zum edlen Schwarzen, der inzestuöse Minenarbeiter zum feinen, einfachen Arbeitsmann aus den Appalachen, dessen Mittellosigkeit und Einfalt im Ausdruck direktemang zu einer Herzensbildung führt, die dem Städter per Zivilisation verwehrt ist.
     Die originale Musik aus fernen Folk-Tagen hörte die stetig wachsende Glaubensgemeinschaft seit 1952 auf der von Harry Smith editierten 'Anthology of American Folk Music'.
     Harry Smith war eine Mischung aus Drogenfreak, Wissenschaftler und Beatnik. Er hätte gut in Jack Kerouacs Bücher gepaßt, wie er mit seinem Tonband kultische Drogenrituale der Indianer Nordwestamerikas aufnimmt, wie er Lagerhallen und Hinterzimmer in abgelegenen Wüstenkäffern manisch nach Schellacks durchforstet, wie er sich beim Arbeitsamt als "Spezialist zur Bemalung von Entenattrappen" registrieren läßt, auf daß ihn keine mögliche Arbeitsvermittlung von seinem Wohlfahrtsscheck und seiner Sammelleidenschaft abhalten möge. Chronisch bankrott wandte sich Smith um 1950 an das Folkways-Label und bot seine Schellack-Sammlung zum Verkauf an. Aus dieser Verzweiflungstat entstand die 'Anthology', ein hermetisches Kunstwerk, dessen Geheimnisse heute noch nicht alle entschlüsselt sind.
     Dies beginnt mit den numerologischen und alchemistischen Komponenten der Auswahl, Abfolge und inneren Beziehung der Stücke und findet mit Zitaten von Rudolph Steiner bis Aleister Crowley auf dieser ersten aller intellektuellen Pop-Platten - auf diesem ersten Mix - noch kein Ende. Dazu kam die fanzine-mäßige Bebilderung des umfangreichen Beiheftes und die umwerfend komischen, zu Zeitungsüberschriften eingedampften Zusammenfassungen Smiths von den tragischen Vorfällen in all den Balladen und schwermütigen Liedern: "KAPITALISTENTRAUM VOM GROSSEN GELD AN EISBERG ZERSCHELLT! MANN UND MAUS AUF BILLIGEN PLÄTZEN ERSAUFEN ZUERST!" All diese Lieder und Tänze hatten bis zur "Anthology" isoliert auf einzelnen Schellack-Seiten existiert, isoliert auch durch die geographische Entfernung zwischen den marginalisierten Bevölkerungsteilen, isoliert durch deren chronischen Geldmangel und den damit verbundenen, erschwerten Zugang zu Kommunikationsmitteln - alle Aufnahmen entstanden vor der flächendeckenden Verbreitung von Radio und Tonfilm, dem Beginn einer großen Sonderung des archaischen Musikmaterials.
     Smith behauptete als erster eine Gemeinsamkeit zwischen diesen Aufnahmen, eine amerikanische Gemeinsamkeit. Er stiftete Identität, die Identität eines facettenreichen, gebrochenen Bildes einer Nation, einer, wie Greil Marcus es nennt "unsichtbaren Republik". Und Smith konnte durch das nagelneue Medium Langspielplatte den Beweis für die Gemeinsamkeit antreten, da er erstmals die verschiedenen Musiken nebeneinander stellen konnte, hörbar an einem Stück - und ohne jeglichen Hinweis auf die Hautfarbe der Interpreten, damit offen die damalige Praxis der Segregation attackierend und ad absurdum führend.
     Für die Folkies war die 'Anthology' die Bibel, ihr Altes Testament; sie lernten jedes Lied, jede Zeile nachzuspielen und nachzusingen. Und als sie dies taten, explodierte Harry Smiths psychedelische Botschaft: "Son House lebt, mit ihm auch ich. Tod, wo sind nun deine Schrecken?"
     Die toten Helden tauchten auf, einer nach dem anderen, und jeder Harvard-Student, der hip war und sich einen VW-Bus leisten konnte, brummte im Sommer 1960 nach Louisiana oder Detroit oder North Carolina, um einen Überlebenden der 'Anthology' zum Newport Folk Festival nach Norden zu schleppen. Der Rest ist Geschichte und heißt Bob Dylan. Der Rest findet sich auf einigen zehntausend Country-, Rock-, Folk- oder Punk-Schallplatten. Kurz vor seinem Tod konnte Harry Smith noch einen Ehren-Grammy mit den Worten entgegennehmen: "Es freut mich, daß aus meinem Traum Wirklichkeit wurde: Musik hat Amerika verändert."

Genrecheck:
Easy Listening

 

 

 

 

 

 

 

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VARIOUS ARTISTS
'The Anthology of American Folk Music' (1952/1997)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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