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Ende der fünfziger Jahre war dank ein wenig Doo-Wop
und jeder Menge Rock'n'Roll und noch viel mehr Schlagermusik der Blues
so tot wie Schneewittchen. Da gab es hier ein wenig elektrifizierten
Lärm auf Chess Records oder brave Sammler wie Chris Strachwitz bei
Arhoolie, die in Zwergentreue den Glassarg bewachten, dort ein paar
Jazzer, die den Blues taten, aber das schwarze Amerika zuckte zu anderen
Sounds, soulful oder a capella: Der Neger in der Arbeitshose mit Gitarre,
der Rumtreiber im schäbigen Anzug war sowas von out - Blues? Nein,
wirklich nicht...
Wie immer aber, wenn die breite Mehrheit
beginnt, eine Kunstform besonders degoutant zu finden, übernimmt eine
randständige Gruppe Hipster gern die Rolle des Prinzen und weckt die
schlafende Schöne durch einen Kuß oder läßt den Sarg fallen, um bei
Schneewittchen zu bleiben.
Was in den neunziger Jahren der Easy-Listening-Musik
oder dem Schlager wiederfuhr, geschah gegen Ende der Eisenhower-Ära
mit Blues und Bluegrass. Studenten in Boston entdeckten während ihrer
komplexen Studien in Harvard oder am Massachussetts Institute of Technology
die Schönheit des einfachen Lebens und verehrten vermeintlich uramerikanische
Werte wie Ehrlichkeit, Unverdorbenheit und Aufrichtigkeit. Die fanden
sie eher in den kratzenden Rillen alter Schellacks mit Liedern der
einfachen Menschen vom Lande als auf den Grillpartys ihrer Eltern,
die den heimischen Garten mit falschen Südsee-Utensilien zu einem
Exotik-Surrogat verfremdeten.
Wer so wunderfeine Musik machen konnte,
mußte ein guter Mensch sein: Der saufende und hurende Bordell-Musikant
mutierte in der Phantasie der wohlbehüteten Studenten zum edlen Schwarzen,
der inzestuöse Minenarbeiter zum feinen, einfachen Arbeitsmann aus
den Appalachen, dessen Mittellosigkeit und Einfalt im Ausdruck direktemang
zu einer Herzensbildung führt, die dem Städter per Zivilisation verwehrt
ist.
Die originale Musik aus fernen Folk-Tagen
hörte die stetig wachsende Glaubensgemeinschaft seit 1952 auf der
von Harry Smith editierten 'Anthology of American Folk Music'.
Harry Smith war eine Mischung aus Drogenfreak,
Wissenschaftler und Beatnik. Er hätte gut in Jack Kerouacs Bücher
gepaßt, wie er mit seinem Tonband kultische Drogenrituale der Indianer
Nordwestamerikas aufnimmt, wie er Lagerhallen und Hinterzimmer in
abgelegenen Wüstenkäffern manisch nach Schellacks durchforstet, wie
er sich beim Arbeitsamt als "Spezialist zur Bemalung von Entenattrappen"
registrieren läßt, auf daß ihn keine mögliche Arbeitsvermittlung von
seinem Wohlfahrtsscheck und seiner Sammelleidenschaft abhalten möge.
Chronisch bankrott wandte sich Smith um 1950 an das Folkways-Label
und bot seine Schellack-Sammlung zum Verkauf an. Aus dieser Verzweiflungstat
entstand die 'Anthology', ein hermetisches Kunstwerk, dessen Geheimnisse
heute noch nicht alle entschlüsselt sind.
Dies beginnt mit den numerologischen
und alchemistischen Komponenten der Auswahl, Abfolge und inneren Beziehung
der Stücke und findet mit Zitaten von Rudolph Steiner bis Aleister
Crowley auf dieser ersten aller intellektuellen Pop-Platten - auf
diesem ersten Mix - noch kein Ende. Dazu kam die fanzine-mäßige Bebilderung
des umfangreichen Beiheftes und die umwerfend komischen, zu Zeitungsüberschriften
eingedampften Zusammenfassungen Smiths von den tragischen Vorfällen
in all den Balladen und schwermütigen Liedern: "KAPITALISTENTRAUM
VOM GROSSEN GELD AN EISBERG ZERSCHELLT! MANN UND MAUS AUF BILLIGEN
PLÄTZEN ERSAUFEN ZUERST!" All diese Lieder und Tänze hatten bis zur
"Anthology" isoliert auf einzelnen Schellack-Seiten existiert, isoliert
auch durch die geographische Entfernung zwischen den marginalisierten
Bevölkerungsteilen, isoliert durch deren chronischen Geldmangel und
den damit verbundenen, erschwerten Zugang zu Kommunikationsmitteln
- alle Aufnahmen entstanden vor der flächendeckenden Verbreitung von
Radio und Tonfilm, dem Beginn einer großen Sonderung des archaischen
Musikmaterials.
Smith behauptete als erster eine Gemeinsamkeit
zwischen diesen Aufnahmen, eine amerikanische Gemeinsamkeit. Er stiftete
Identität, die Identität eines facettenreichen, gebrochenen Bildes
einer Nation, einer, wie Greil Marcus es nennt "unsichtbaren Republik".
Und Smith konnte durch das nagelneue Medium Langspielplatte den Beweis
für die Gemeinsamkeit antreten, da er erstmals die verschiedenen Musiken
nebeneinander stellen konnte, hörbar an einem Stück - und ohne jeglichen
Hinweis auf die Hautfarbe der Interpreten, damit offen die damalige
Praxis der Segregation attackierend und ad absurdum führend.
Für die Folkies war die 'Anthology'
die Bibel, ihr Altes Testament; sie lernten jedes Lied, jede Zeile
nachzuspielen und nachzusingen. Und als sie dies taten, explodierte
Harry Smiths psychedelische Botschaft: "Son House lebt, mit ihm auch
ich. Tod, wo sind nun deine Schrecken?"
Die toten Helden tauchten auf, einer
nach dem anderen, und jeder Harvard-Student, der hip war und sich
einen VW-Bus leisten konnte, brummte im Sommer 1960 nach Louisiana
oder Detroit oder North Carolina, um einen Überlebenden der 'Anthology'
zum Newport Folk Festival nach Norden zu schleppen. Der Rest ist Geschichte
und heißt Bob Dylan. Der Rest findet sich auf einigen zehntausend
Country-, Rock-, Folk- oder Punk-Schallplatten. Kurz vor seinem Tod
konnte Harry Smith noch einen Ehren-Grammy mit den Worten entgegennehmen:
"Es freut mich, daß aus meinem Traum Wirklichkeit wurde: Musik hat
Amerika verändert."
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Genrecheck:
Easy
Listening
12
VARIOUS ARTISTS
'The Anthology of American Folk Music' (1952/1997)
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