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Der erste Schuß verändert alles. Gerade war man noch
ein Junge, der jeden Samstag mit der Entscheidung kämpft, ob die 'Sportschau'
in der ARD oder Ilja Richters 'Disco' im ZDF lebenswichtiger sei,
gerade stolperte man noch von Party zu Landjugendball zu Rotweinabenden
mit Keith Jarrett, als man mitten im Lauf, mitten in der Bewegung,
von dieser übergroßen Kugel aus einer 45er Magnum getroffen wird.
Man sieht sie kommen, langsam, verlangsamt wie in einem Film von Sam
Peckinpah. Sie kommt auf einen zu, reißt Haut und Fleisch auf, trifft
ins Herz: Doch niemand sonst will etwas bemerkt haben. Nur das verletzte
Herz bleibt zurück in der Brust und will nicht heilen.
Da begreift der Junge, daß auf dieser
Kugel sein Name stand, daß sie nur für ihn bestimmt war: sein erster
Schuß. Wohlige Wärme. Wohliger Schmerz. Wohliges Räkeln auf den Matratzen
des Partykellers. Allein unter Milliarden. Allein mit dieser Stimme,
mit dieser Musik. Die macht "pling, pling, schnarrr". Und die
Stimme brummelt: "There is a war between the rich and the poor,
between man and woman"; und "Is this what you wanted, to live
in a house that is haunted by a ghost?"; und "Lover, lover, lover
come back to me". Die Stimme spricht mit der Stimme eines 40jährigen
Mannes vom eigenen pickeligen Leid. Sie nimmt ernst und tröstet. Sie
verrät ein wenig, nicht zuviel, von den großen Geheimnissen des Lebens
jenseits der nächtlichen Erektionen. Später wird der Junge sehen,
daß sich auf dem Cover zwei Engel paaren, Gestalten aus einem arkanen
Buch des 16. Jahrhunderts, und daß es also um die geistige Vereinigung
des weiblichen mit dem männlichen Prinzip gehe: so fucking what! Jetzt
wird sein Leben auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, jetzt!
Selbstmitleid von nie geahntem Ausmaß! Reinigender, kühler, klarer
Zynismus! Ein Schnurren, Balzen, Raunen, das aus der Hölle kommt und
den Himmel will. Aber wer ist dieser ältere Bruder?
Es ist Leonard Cohen, Kanadier,
Jahrgang 1934. Ein alter Sack, wenn es denn je einen gegeben hat.
Ein mächtiger Verderber der Jugend. Ein Beatnik aus der Provinz, der
eigentlich Countrymusik machen wollte, aber seit 1968 als Inkarnation
des abgeklärten Folksängers tingelt, dem Beat-Dichter alle Ehre machend
und auch dem Folk. Cohens 'New Skin for the Old Ceremony' stellen
wir als erste Platte in das noch leere Fach unserer imaginären Plattensammlung.
Nicht seine von Phil Spector zu Camp gewendelte 'Death of a Ladies'
Man', nicht seine hitverdächtigeren Frühwerke mit ihrer kargen Gitarrenbegleitung
zur weltgeschmerzt-abgewendeten Stimme sollen es sein, sondern dieser
Bastard, diese Platte am Scheideweg, die Musik eines alternden Narren,
der von sich selbst die Nase voll hat und weiß, daß seine Zukunft
nur noch Fusion-Musik, Zen-Buddhismus und Sugardaddy-Dienste für Jennifer
Warnes bereit hält. Nur auf 'New Skin...' wird es ungemütlich in der
ansonsten etwas alternativ-saturierten Rotweintrinkerwelt des Kantschädels.
Nur hier wetterleuchtet existentieller, nicht gewohnheitsmäßiger Zweifel.
Und ist eine Zeile nicht hilfreich wie "Here's a man still working
for your smile", wenn man selbst die vierzig erreicht hat? Keine Ahnung
von Musik, aber das Unterkiefer so groß wie sein Herz. Unser Mann.
Mein erster Schuß. |
Genrecheck:
Beat
1 / Beat 2
1
LEONHARD COHEN
'New Skin for the Old Ceremony' (1976)
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