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Es sind dann doch die Stimmen, die einen am Leben erhalten.
Nicht so sehr die Wörter und Worte, sondern die Stimmen. Ich weiß,
die Generation nach mir feiert ihre Sprachlosigkeit - Verzeihung:
ihr Nicht-Sprechen - als Errungenschaft, begnügt sich mit gesampelten
Sprach-Fragmenten, einer Parole maximal, mit ein paar dick-schwarzen
Soulstimmen im Housegewand und kann genau erklären, warum das gut
ist und nicht anders.
Aber ich brauche Stimmen. Stimmen, und
das ist das Wichtigste, trösten. Sie teilen sich mir mit, erzählen
in Tonfall und Stimmlage von einem anderen Leben, das gewisse Überschneidungen
mit meinem aufweist, aber auch ungezählte andere Optionen enthält.
Sie berühren. Sie geben Halt. Auf sie ist Verlaß, weil ich es so will.
Von ihnen lasse ich mich gern belügen, weil ihre Lügen auch die meinen
sind. Die erste Stimme, die mich anfiel wie ein Gott, gehörte Bob
Dylan. Vermutlich kannte ich damals ein paar seiner Lieder in
der Version der Byrds, jedenfalls kaufte ich zögerlich seine
LP 'Desire' und war schockiert nach dem ersten Hören - darauf
war ich nicht vorbereitet gewesen. Da ist ja gar keine richtige Musik
drauf, bloß viel Mundharmonika und Gefiedel, ein wenig Rhythmusgitarre
und Schlagzeug. Die Arrangements sind nur Vorwand: Dylan singt im
Prinzip eine Stunde lang auf seinen Hörer ein, die Stimmbänder in
die Nase verpflanzt, mal intonierend wie ein Araber, mal wie ein mexikanischer
Outlaw, meist wie ein Irrer, ja, ein Cyrano de Bergeraç, der zuviel
Speed eingepfiffen hat. Die Songs sind meist keine Songs, sondern
Melodramen, halb englische Ballade, halb Hollywood-Drehbuch, ein Western,
ein Krimi, ein Horrorfilm, mal Scorsese, mal Hawks, mal irgendwas
mit Rock Hudson. Hier nimmt einer Anlauf. Hier springt einer ab. Und
er weiß nicht, ob unten im Becken Wasser ist. Nochmal die Ehe retten
wollen. Nochmal konkret politisch sein. Aber dann doch nicht aus seiner
Haut können. Bis er 1997 'Time out of Mind' veröffentlichte, hat sich
Dylan immer wieder anhören müssen, 'Desire' sei seine letzte gute
Platte gewesen. Vermutlich haßt er sie. Vielleicht spielt Dylan bei
seinen Konzerten deswegen so gut wie nie einen Song aus 'Desire'.
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60
BOB DYLAN
'Desire' (1975)
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