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Ich ging noch zur Schule und spielte Luftgitarre zu
Status Quo und Deep Purple, als eines frühen Abends
etwas Seltsames geschah: Im Bayerischen Fernsehen lief eine Ausgabe
des WDR-'Rockpalasts', selten genug, und der vorgestellte Musiker
hieß Tom Waits. Kannte ich nicht. Der offensichtlich betrunkene
Kerl mit dem idiotischen Ziegenbärtchen und einer Schiebermütze auf
dem Kopf kauerte hinter einem Flügel und gurrte, grunzte, knarrte
in einer unsäglich tiefen, geschundenen Stimme seine Barlieder in
unsere Wohnstube, an unseren Abendessenstisch. Ich fand ihn eher Scheiße,
doch meine Eltern fanden ihn so richtig SCHEISSE! Sie hatten The
Who, Iron Butterfly oder Jethro Tull ertragen, mal
ein bißchen Interesse geheuchelt, hie und da oder milde gelächelt,
aber nun waren sie drauf und dran, Amok zu laufen. Den konnten sie
nicht ertragen. Dieses absolut undeutsche Beatnik-Verwahrlosungs-Jazz-Drogen-Geklimper
führte direkt in die Hölle. Ich machte mir in Gedanken einen Vermerk,
zweimal mental unterstrichen, und besorgte mir bei erster Gelegenheit
die Platten von Tom Waits.
Nun gibt es einen Tom Waits I und einen
Tom Waits II: Ersterer machte in den siebziger Jahren phantastische
Bukowski-Platten, kalifornische Wrong-side-of-the-Tracks-Miniaturen,
die den romantischen Trinker-Quatsch immer noch in den Dienst einer
beseelten Beatitude stellten, und die Nachtseite der menschlichen
Seele wenigstens mit dem Glühen von Zigaretten und Joints ausleuchten
wollten. Doch Waits II verschenkte die Chance, der Frank Sinatra meiner
Generation zu werden, für ein angeberisches Avantgarde-Getue, das
an den besten Stellen klang wie Beefheart für Arme, aber sich meist
eben wie jene Zwetschgenköpfe anhörte, die er weltweit mit diesem
Jim-Jarmush-Robert-Wilson-Staatsschauspiel-Gewinsel infizierte, will
sagen: wie die Parodie einer Parodie. Wenn eine Plattenfirma den Fehler
macht, mir ihren jungen Künstler als "Tom-Waits-mäßig" anzudienen,
dann wird die CD ungehört auf den Flohmarktstapel gelegt. Das, ganz
nebenbei, als Warnung.
Und als Ansporn, die raspelnde Erlöserstimme
des Tom Waits I zu entdecken, auf 'The Heart of Saturday Night'
am besten, wenn sich nach zwanzig Minuten Erstaunen einstellt, daß
sich da eine Gitarre in die solide, stilisierte Jazz-Umgebung verirrt,
die den Spät-Beatnik-Texten des noch sehr jungen Mr. Waits einen vorher
und nachher nicht erreichten Hauch von selbstbestimmter Klasse verleiht.
Wie der da seine Poetry-Kaskaden auf den Eiswürfelsound legt, wie
sehr der da selber noch an die Verbesserung der Welt durch die Wahrheit
glaubt und nicht an den ironischen Kunst-Krampf, dem er sich vor lauter
Saufen und Zynismus wird hingeben müssen: Das ist unfaßbar reich und
überlegen. |
74
TOM WAITS
'The Heart of Saturday Night' (1974)
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