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Es gibt Bücher, die einen extremen Einfluß ausüben auf
jedermann und jedefrau, ohne daß man diese Bücher gelesen haben muß:
Der 'Mann ohne Eigenschaften' gehört dazu, der 'Zauberberg' und 'Auf
der Suche nach der verlorenen Zeit'. Die Handlung dieser Bücher kann
als bekannt, die Essenz als auf osmotische Weise überliefertes Erbe
unserer Zivilisation angesehen werden, eingeatmet, ausgeatmet mit
jedem neuen Tag.
In der Popmusik zählen die LPs von Elvis
Presley oder den Beatles zu diesen "in der Luft liegenden"
Gemein-heiten und fehlen in diesem Buch, weil die anderen Einträge
ständig auf sie vor- oder zurückverweisen. Also lassen wir den Elvis
ohne Schlagzeug (gut) und den Elvis mit Schlagzeug (irgendwie nicht
gut) Country, Rockabilly und Rhythm'n'Blues verquicken, lassen wir
Amerika von den Beatles überrannt werden und neu erstehen im Sound
der Surfer und Country-Rocker, auf die ich in der nächsten Abteilung
noch kommen werde. Zwanzig Jahre nach dem Tod von Hank Williams wurde
in den USA langsam ein neuer Typus Country Musiker aktiv, der sein
Haar bis zum Arsch trug, Joints nicht für eine Todsünde hielt und
ein entjungfertes Mädchen nicht gleich für eine Hure. Nashville war
ihm ein Greuel; Bluegrass Musik fand er geil, weil irgendwie folkig
und authentisch und wild und nicht so leicht vereinnahmbar vom Establishment,
also lernte dieser Kerl und übte und fand angetörnte Freunde, und
gewann die Herzen manch alter Haudegen, denen die Grand-Ole-Opry-Kacke
auch zum Hals heraushing, und alles wurde bekiffter und schneller
und schneller und bekiffter - was für ein Gegensatz - und auch technisch
versierter und elektrisch verstärkter und schließlich zu Newgrass
oder auch zu Outlaw Music oder dann doch zu Country-Rock: Jedenfalls,
die neuen Jungs waren da, von Jimmy Buffett, Waylon Jennings, Dough
Sahm, Guy Clark, über Commander Cody & His Lost Planet Airmen
bis zu den Whizz-Kids wie Bela Fleck. Darüber thronen die neuen Megastars:
Dwight Yoakam als der reinkarnierte Hank Williams, Garth Brooks als
die Barbie-&-Ken-Version von Country Musik, dazu die ganzen Neo-Country-Diseusen
von Emmylou Harris bis Nicolette Larson.
Country strahlt seit den siebziger Jahren
selbst in so entlegene Musik-Galaxien wie Funk oder Jazz aus; Performance-Künstler
wie Ned Sublette setzen den Stetson auf, und Ulk-Punks wie Ween
ziehen gen Nashville, um den korrekten Sound zu bekommen, während
sich Johnny Cash unter Anleitung eines Hardrock- und HipHop-Produzenten
ein spartanisches, ja fast Beckett'sches Alterswerk abringen kann
- Postmoderne auch in der Country-Musik, verwirrend, unübersichtlich.
Wem das Tempo dieses Countrydurchmarsches
zu hoch war, für den sei die Zeit nochmals zurückgedreht ins Jahr
1973, als Post noch etwas mit Briefmarken und Moderne mit Raketen
zu tun hatte: Alt seien sie und im Weg, Old & in the Way, kokettierten
damals ein jüdischer Picker, ein Folkie aus North Carolina, ein ständig
ausgespacter Hippie mit freundschaftlichen Banden zu den Hells Angels
und eine aufgeschlossene Bluegrass-Eminenz. Sie würden sich noch wundern,
wie alt sie alle werden sollten. Oder wie jung sie dann doch sterben
würden. Aber 1973 war man jenseits der Dreißig schon ein Midlife-Greis,
und als solcher durfte man Old-timey Music spielen: Also pickten und
balzten und sangen sich David Grisman, Peter Rowan, Jerry Garcia und
Vassar Clemens auf eine bekiffte Weise engagiert durch ein nur aus
heutiger Sicht altertümliches Repertoire - schließlich hatte man damals
aktuelle Songs von den Rolling Stones oder von Peter Rowans
Alben der Bluegrass-Behandlung unterzogen - und selbst heute kann
man sich der antiautoritären und demokratischen Umgangsart von 'Old
& in the Way' nicht entziehen. Verglichen mit den zeitgleichen,
etwas zu "witzig" geratenen Unternehmungen John Hartfords oder den
salbungsvollen Weihespielen der Nitty Gritty Dirt Band sind
die gelegentlichen Treffen dieser freundschaftlich verbundenen und
doch in verschiedenen Welten beheimateten Musiker ein Genuß, der über
das Genre Country Musik hinausweist. Eine ausgestreckte Hand. Freunde.
Die ideale Musik, falls jemand zu Besuch kommt, den man jahrelang
nicht mehr gesehen hat. |
Genrecheck:
Bluegrass
43
JERRY GARCIA / OLD & IN THE WAY
'Old & in the Way' (1974)
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