|
Nur so nebenbei und weil sie es ohnehin bereits bemerkt
haben werden: Mir geraten selbst harmlose Kapitel über Operetten oder
postmodernen Country Rock zum morbiden musique noir-Szenario.
Wenn Pop anfängt, das eigene Axiom von der Kurzlebigkeit zu widerlegen
und ins Zeitlose zu lappen, dann hat dies paradoxerweise meist mit
einer direkten oder unterschwelligen Todesthematik zu tun. Aber ich
bemühe mich um ein versöhnliches Ende in Sachen Country: Der nächste
Eintrag ins Register der perfekten Plattensammlung betrifft eine CD,
die mit einer Rock-Kakophonie beginnt, aus der sich alles entwickeln
kann, ein Metal-Album, ein Hardrock-Album, eine avantgardistische
Lärmorgie oder, kaum unglaublich, die wohl schönste countrygefärbte
Platte der neunziger Jahre: 'Being There' von Wilco.
Wilco ist Jeff Tweedys Projekt; parallel zu Wilco ist
Tweedy bei der wunderbaren "Faces-für-die-Neunziger"-Combo
Golden Smog zugange und in der Vergangenheit lauern Uncle
Tupelo, die gern für das Gelbste vom Landei gehalten werden, was
in dieser Dekade so passiert ist, naja. Aber lassen Sie sich nicht
irre machen: 'Being There' gebührt die Krone. 19 Songs enthält die
Doppel-CD, und jeder ist ein Grund genug, Jeff Tweedy mit "Sir" anzureden.
Die Kritiker-Kollegen haben natürlich gleich wieder gemäkelt, eine
CD hätte gereicht, so sei alles zu lang, breit und reichlich geraten.
Aber nein, Einspruch, hoch ist es geraten, hoch, 'Eight Miles High',
wenn's denn sein muß. 'Being There' verbindet enzyklopädisch die siebziger
mit den neunziger Jahren, versöhnt Faces und Mott the Hoople
mit Gram Parsons und Roger McGuinn, verbindet die transatlantische
Feedback-Leistung von Alex Chiltons Big Star mit der Sehnsucht
eines David Bowie nach einem imaginären Amerika: "I'm afraid of Americans!".
Aber das alles muß man nicht kennen und wissen und hören: Es genügt,
der romantischen Herzensbrecherstimme Tweedys zuzuhören, den sich
türmenden Gitarren, dem relaxten Rhythmus; es genügt, sich den Songs
gleich in einen Sessel zu fläzen und einen Trip mitzumachen durch
menschenleere, nächtliche Straßen, dabei ein wenig in die erleuchteten
Fenster zu blicken, sich ein wenig zu erinnern, sich ein wenig selbst
zu bemitleiden, sich zu amüsieren auf eine sehr private Art und Weise.
Diese Doppel-CD ist ein guter Freund, vor dem man keine Geheimnisse
zu haben braucht und der auch vor einem selbst keine Geheimnisse hat:
Nicht umsonst war 'Being There' Monat um Monat und mehr als ein Jahr
an der Spitze der Leser-Charts des deutschen Rolling Stone.
Und zu Jeff Tweedy selbst habe ich einmal
gesagt, daß ich es besonders toll fände, daß er keine Angst habe,
sich lächerlich zu machen, so offen und alltäglich und betont unmodisch
wie sie seien. Er schaute mich verständnislos an und raunzte: "You
say, we're not cool or what?" und war den Rest des Interviews über
eingeschnappt. Ich hoffe, er versteht nie, was ich gemeint haben könnte.
|
54
WILCO
'Being There' (1996)
|