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Und wie schaut es mit Lou Reeds Haßliebe John Cale
aus? Von dem würde ich 'Music for a New Society' auswählen,
um mich an einsamem Strand beim Flaschenpostschreiben an diesem Franzl
Schubert meiner Generation zu erfreuen und mich erinnern, wie er Hühnern
den Kopf abbiß, russischen Orchestern Eier verpaßte und Chuck Berry
einen Minimal Music PhD. 'Music for a New Society' ist Musik für eine
neue, eine andere Gesellschaft. Eine Gesellschaft, die es aushalten
kann, daß es bis zum Ende der A-Seite einer LP dauern kann, will man
einen halbwegs konventionellen Song hören, 'Close Watch', doch selbst
der rauscht, fiepst und britzelt, bis ein Dudelsack und eine Snare
das Lied zu einem halbwegs guten Ende bringen. Davor muß jeder für
sich durch Cales antarktisches Seeleneis gehen, das diese Gesellschaft
mit einer idealistischen Kälte abbildet, die der Sänger mit seiner
samtweichen und trotzdem knarzig-walisischen Stimme nicht lindern
kann und will. Überhaupt die Stimme: Der fast unerträgliche Hall isoliert
den Sänger von der Gesellschaft der Instrumente, schafft einen körperlich
spürbaren Abstand, macht eine artifizielle Einsamkeit hörbar. Cales
tiefempfundener Humanismus, gern hinter Psychosen, Impertinenz oder
Jovialität versteckt, wird auf keiner seiner LPs deutlicher, genau
wie die Bedeutung, die er für Lou Reed hatte: der Fremde, der klügere
Bruder aus Europa, der Mensch, der mit einem arroganten Arschloch
über den Abgrund balancieren mag. Bis das Arschloch losläßt. |
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JOHN CALE
'Music for a New Society' (1982)
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